Weihnachten ohne zu singen...

Das kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt für mich kein Ereignis im Jahr, das so sehr mit Gesang, mit Musik überhaupt verbunden ist. Das war bei mir so seit Kindheit. Schon Wochen im voraus habe ich die schlichten und zugleich festlichen Melodien auf der Blockflöte geübt. Damit ich sie für Heiligabend und unsere häusliche Feier parat hatte. Alle Jahre wieder. Ihr Kinderlein kommet. Es ist ein Ros entsprungen. Stille Nacht. Das Büchlein mit den Liedern gibt es heute noch. Es ist völlig zerschlissen vom Gebrauch. Wie gut, dass auch eher volkstümliche Weihnachtslieder im neuen Gotteslob einen Platz gefunden haben. Mein Lieblingslied zu Weihnachten ist allerdings ein anderes. Eines, das nicht an der kindlichen Freude oder anderen äußeren Umständen - den süßer klingenden Glocken oder den grünen Blättern des Tannenbaums - hängen bleibt. Und trotzdem eine tiefe Sehnsucht ausstrahlt und erfüllt ist von echtem Gefühl. Ich meine Paul Gerhardts „Ich steh‘ an deiner Krippe hier“. Es ist endlich mit der viel passenderen, weil nachdenklicheren Melodie von J. S. Bach in unserem Gesangbuch zu finden (GL 256).

Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben.

Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben.

Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,

Herz, Seel und Mut, nimm alles hin

und lass dir’s wohl gefallen.

Das Lied baut von Anfang an eine persönliche Beziehung zu dem auf, der es singt. Ja, es verlangt eine unmittelbare Identifizierung mit seinem Inhalt. Paul Gerhardt will den Sänger so nahe wie möglich mit dem in Verbindung bringen, was sich an Weihnachten ereignet hat. So finde ich mich im Handumdrehen im Stall von Betlehem wieder und stehe neben Ochs und Esel, Maria und Josef selbst an der Krippe und bringe wie die Weisen aus dem Morgenland meine Gabe dar. Es ist aber nicht nur eine Gabe, es ist mein ganzes Leben, das ich in die Hände des Kindes dort lege. Ich überantworte meine gesamte Existenz Gott. Geist und Sinn, Seel‘ und Mut – sie gehören dem, der alles geschaffen hat. Dem Schöpfer des Universums. Dem Allerbarmer. An Weihnachten wird er mit uns gemein. So, dass menschliche Nähe entstehen kann, damit wir IHN nicht in der Ferne suchen, weit weg und über alles erhaben, sondern in uns selbst. In unserer Liebe, in unserem Tod.
Das Schöne an einem gelungenen Lied ist: Seine Melodie unterstreicht und erweitert den Text, macht das Wort zugänglich und führt am Ende zu einer echten Bewegung meines Herzens. Mich in die Szene der Krippe hineinzuversetzen, wie ein Kind dabei zu stehen und zu stauen, das macht mich glücklich. Und es gehört für mich unverzichtbar zu jedem Weihnachtsfest.

Thomas Steiger, Präses des Cäcilienverbands

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Singen hat etwas Heiliges

Drei Tübinger Chormitglieder haben auf Einladung des Heiligsblättle erzählt, was sie am Singen fasziniert

Zwei Frauen und ein Mann sitzen am Redaktionstisch des Heiligsblätte in der Bachgasse. Sie singen in drei verschiedenen Tübinger Chören. Sie singen unterschiedliche Musikrichtungen. Sie stammen aus unterschiedlichen Altersgruppen. Zwischen der jüngsten und dem ältesten liegen 50 Jahre. Was alle drei verbindet, ist die Faszination am Singen. Genauer: die Faszination am Singen in der Kirche. Und davon wollen sie erzählen.

»Bei uns nutzt eine Japanerin den Chor,
um besser Deutsch zu lernen.«

Hans-Jürgen Dobler

Um die Faszination auszurücken, hat jeder von ihnen etwas mitgebracht. Mirjam Forberger, mit 23 Jahren die mit Abstand jüngste in der Runde, einen Bleistift. Irmtraut Schleeh, 71, einen Werbezettel ihres Chores AUFTAKT aus St. Michael. Und Hans-Jürgen Dobler, 73, ein kleines Heft mit dem Jahresprogramm der Kirchenmusik St. Paulus. Das hat er wegen des Zitats von Victor Hugo mitgebracht, das dem Programm vorangestellt ist. „Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist“, liest der pensionierte Lehrer vor, der selbst gleich zweimal über die Schule zum Chorsingen gekommen ist.

„Ein Pater aus Ottobeuren, bei dem wir Religionsunterricht hatten, hat mich in eine Choralschola gebracht und gefühlt war ich dadurch öfter in der Kirche als in der Schule.“ Aber „richtig im Chor“ sei er erst seit 1988. Da habe er eine neue Funktion als Schulleiter bekommen und gemerkt: „Ich muss für meine Stimme etwas tun.“ Umgesetzt hat er das seitdem im Kirchenchor von St. Paulus, der in der Nordstadtgemeinde vor allem für die musikalische Gestaltung der kirchlichen Feiertage sorgt.
Das Singen überhaupt und besonders das Einstudieren der Messen, die der Chor regelmäßig neu einstudiert, würden ihn fit halten, meint Dobler: „Das fordert mich, ich muss was neues lernen und das tut meinem Hirn gut.“ Aber da sei noch mehr. „Das ist eine eigene Form des Betens.“

»Mit Freunden am Lagerfeuer zu
singen ist schön, hat aber nicht so
die Tiefe, als wenn ich den Gesang
meinem Gott widme.«

Mirjam Forberger

„Das Singen in der Kirche hat etwas Heiliges“, pflichtet Forberger ihm bei. „Als Sängerin fühle ich mich auch als Gestalterin des Gottesdienstes und es macht mir gute Laune.“
Und was hat es mit dem Bleistift auf sich? „Der ist für mich der Inbegriff des Chorsingens“, meint die Studentin, deren Chor-Erfahrung im fünften Lebensjahr in einem Kinderchor in Lüneburg begann. Als sie zum Medizinstudium nach Tübingen kam, hat sie gezielt einen Chor gesucht. Die Wahl fiel auf die Johanneskantorei.
„Am Anfang der Probe geht da immer eine Kiste mit Bleistiften herum, jeder nimmt sich einen, markiert damit die Noten und am Ende ist das Blatt ein kleines Kunstwerk.“
Zur Johanneskantorei, die Gottesdienste in St. Johannes musikalisch gestaltet und Konzerte in und außerhalb Tübingens gibt, gehören mehr als 40 Sängerinnen und Sänger. Es sind etwa gleich viel Studierende wie Berufstätige. „Die Zusammensetzung hat mich überrascht“, erzählt Forberger. „Links neben mir singt eine Klavierlehrerin, hinter mir eine Flötenlehrerin. Und als es nach nur drei Wochen Proben ein Konzert gab, dachte ich mir: Krass, wie schnell hier ein Stück sitzt.“
Noch wichtiger als der musikalische Anspruch ist Forberger allerdings, „dass es Spaß macht und dass man mit Menschen zusammen ist, die einen ganz anderen Hintergrund haben, aber durch die Musik verbunden sind.“ Das Chorsingen ist für sie ein Ausgleich zum Studium.
„Zu Hause höre ich gerne Swing der 1920er Jahre. Die Musik aus unserem Chor würde ich da nie hören. Aber diese Musik mit anderen zu singen, macht ihren Reiz aus.“

»Wenn ich alleine singe, brauche ich langen Atem.
Wenn ich im Chor singe,
tragen einen die anderen mit.«

Mirjam Forberger

Die Musik, die Irmtraut Schleeh im AUFTAKT singt, ist ganz anders als die klassische Chormusik der Johanneskantorei. Die Freude am gemeinsamen Musizieren ist jedoch dieselbe.
„Wenn ich im Chor singe und mich dort mit anderen gleich gesinnten treffe, dann geht’s mir gut. Wir sind eine große Familie, und wenn einer Geburtstag hat, darf er sich ein Lied wünschen.“
Seit 1996 singt die ehemalige Lehrerin bei AUFTAKT. Vorher war sie schon im Stiftskirchenchor und im Kirchenchor von St. Michael aktiv. Musikalisch schätzt sie bei AUFTAKT die große Bandbreite der gut 20köpfigen Gruppe. Deshalb hat sie auch den Handzettel mitgebracht, mit dem der Chor um neue Mitglieder wirbt, die Probezeiten nennt und über das Repertoire informiert: Gospel, Spiritual, Rock, Pop, Jazz. „Hinzu kommt noch Neues geistliches Lied auf deutsch“, ergänzt Schleeh.
„Ich bin zwar kein regelmäßiger Kirchgänger, aber ich mag, es Gottesdienste mit zu gestalten. Ein normaler Gesangsverein wäre nichts für mich.“

Ludwig-Michael Cremer