Welche Kirche es tatsächlich braucht

Unsere Kirche ist schon eine Weile unter der Überschrift „Kirchenentwicklung“ mit der Frage beschäftigt, wozu sind wir Kirche, wozu sind wir Kirche an diesem Ort? Die Corona-Krise spitzt diese Frage zu.

„Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts“

Dieses geflügelte Wort des französischen Bischofs Gaillot fällt mir ein, wenn ich die Wozu-Frage stelle. Gerade in der Corona-Krise muss sich die Kirche fragen, welchen Dienst sie den Menschen anbieten kann, die krank, einsam, gefährdet oder ängstlich sind? Das sind die vielen Dienste in der organisierten Caritas, das ist die hochnotwendige Seelsorge in den Krankenhäusern, an der Hochschule und in den Gemeinden, aber darüber hinaus vor allem die vielen verschiedenen Dienste, die jetzt Christinnen und Christen füreinander leisten – indem sie einsame oder kranke Menschen anrufen, Einkäufe für sie erledigen, mal über den Zaun rufen, einander Mut zusprechen und füreinander beten. Gerade dieses Christsein im Alltag ist nach Corona in den Kirchengemeinden zu reflektieren, ganz im Sinne von Matthias Sellmann: „Denn das Ziel des Christseins ist nicht die Bildung von Kirche; sondern das Ziel von Kirche ist die Entwicklung von Christsein.“

„Du bist nicht allein“

Die Kirche ist in der Corona-Krise im guten Sinn auf ihre Botschaft zurückgeworfen worden. Weil vieles nicht möglich ist, was sonst ihr Programm füllt, stellt sich die Frage nach ihrem Kern. Weil jede/r allein zu Hause sein muss und sich auch die Kirche nur online ins Spiel bringen kann, schält dieser heraus: Du bist nicht allein. Erstens: Unser Gott ist einer, der bei dir bleibt – in Einsamkeit, Krankheit, in Angst und auch im Sterben. Zweitens: Unser Gott verbindet uns untereinander – im Gebet, im Füreinander da sein; und diese Verbindung, so glauben und hoffen wir, bleibt auch über den Tod hinaus bestehen. Die Kirche hat in der Corona-Zeit die Möglichkeiten des Internets erst so richtig entdeckt, diese Botschaft ins Wohnzimmer hinein zuzusagen. Alle Streamings von Gottesdiensten haben diese Absicht. Doch genauso wirksam sind die kleinen Impulse rund um Evangelium und Gebet, die Menschen miteinander verbinden, die nicht beieinander sein konnten. So schrieb mir eine Frau, dass sie über die tägliche Hoffnungszeit auf www.drs.de mit ihrer Mutter im Altenheim immer um 19.30 Uhr im Gebet verbunden war.

„Dein Glaube hat dir geholfen“

Jesus sagt diesen Satz zu dem Blinden, den er gerade geheilt hatte. Ein bemerkenswerter Satz, der uns die Frage nach den Wozu beantwortet. Kirche hat den Auftrag, den Glauben der Menschen zu entdecken, zu unterstützen und freizugeben. Dann kann er ihnen helfen, Sinn zu stiften und schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Dabei sind die Menschen frei – Glaube wird ermöglicht und nicht vorgegeben oder kontrolliert. 

Das sind drei aus der Krise gewonnene Antworten auf die Frage, wozu wir Kirche sind. Sie können an jedem kirchlichen Ort konkretisiert werden. Dann wird es spannend. Matthäus Karrer, Weihbischof

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Maria 2.0 stellt die Machtfrage

Auf unsere Aktionen für Maria 2.0 gibt es regelmäßig zwei sehr unterschiedliche Reaktionen: „Warum engagierst du dich als Frau eigentlich noch bei diesem Verein?“, fragen die einen. „Frauen sind auch nicht besser als Männer“, sagen einige andere. Der Vorwurf darin: Wir wollen die Männer einfach gegen Frauen austauschen. Aber ob die ihre Aufgaben besser erfüllen würden, sei nicht sicher.

Tatsächlich: Einfach weitermachen wie bisher, mit Frauen statt Männern im klerikalen System, wäre kein großer Fortschritt – auch wenn Frauen hoffentlich andere Themen und Erfahrungen beisteuern könnten.  Wir möchten aber vor allem, dass die am besten Geeigneten eine Chance bekommen – ob Mann oder Frau, verheiratet oder nicht. Weil die bisherigen Ausschlusskriterien nicht begründbar sind, weil die Kirche zu viel Potenzial vergeudet und sich ihre eigene Zukunft verbaut. Allein das kann einer klerikalen Männerkirche schon Angst machen, denn es gäbe plötzlich eine größere Vielfalt an Personen, Meinungen und Lebensentwürfen. Meiner Ansicht nach geht es aber um mehr: Möchte die katholische Kirche in der aufgeklärten Gesellschaft ernst genommen werden, muss sie auf Macht verzichten – so paradox das klingen mag. Nur so können wir das, was uns wichtig ist, glaubwürdig vertreten.

De facto ist der Machtverlust seit Jahrzehnten im Gange, selbst innerhalb der Kirche: Wer fühlt sich noch schuldig bei Empfängnisverhütung oder wenn die letzte Beichte Jahrzehnte zurückliegt? Wer sieht nicht ein, dass nach einer gescheiterten Ehe keine neue Beziehung erlaubt sein soll? Dass man kein Abendmahl mit den evangelischen Freunden feiern darf? Wer glaubt, dass Jesus nur Menschen mit XY-Chromosomensatz am Altar sehen möchte? Und wer akzeptiert Begründungen, die weder in der Bibel noch im eigenen Gewissen oder der eigenen Erfahrung zu finden sind?

Vielleicht hat man früher leichter akzeptiert, dass die Kirche sagt, wie man zu leben hat. Vor allem aber war man schlicht zu Gehorsam gezwungen, solange kirchliche und weltliche Macht in einer Hand lagen. Heute gestehen die meisten Menschen der Kirche diese Macht nicht mehr zu. Sie fragen nicht mehr den Pfarrer, was richtig und falsch ist, sondern ihre Familie, Freunde oder das Internet. Das mag sich nach einem Verlust anfühlen, denn tatsächlich hat die Kirche viel Wertvolles zu sagen. Es ist aber auch eine große Chance: Die Kirche muss nicht mehr auf alles eine endgültige Antwort haben. Sie muss keine Dogmen verkünden, die nicht mehr korrigierbar sind. Sie kann zugeben, dass sie genau wie jeder einzelne Mensch unterwegs und auf der Suche ist. Sie kann in guter katholischer Tradition Vielfalt aushalten.

Das soll nicht bedeuten, dass wir per Mehrheitsbeschluss die Zehn Gebote ändern oder entscheiden könnten, wer beim Jüngsten Gericht gerettet wird. Aber wir könnten uns auf die Kernbotschaften beschränken, statt zu suggerieren, dass sich gute Christen v.a. durch das korrekte Verhalten im Schlafzimmer auszeichnen (zumal zu viele Kirchenvertreter sich dort nach allen vorstellbaren Maßstäben versündigt haben).

Zum Glück kennen und leben viele von uns an der Basis ja schon eine Kirche, die besser ist als ihr Ruf: menschenfreundlich, geschwisterlich, inspirierend, vielfältig. Noch hoffe ich, dass sich das auch in die oberen Ebenen fortsetzt und nach außen besser sichtbar wird. Eine solche Kirche würde vielleicht auch wieder gehört, wenn sie sich in gesellschaftliche Debatten einmischt. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger dessen, der die moralische Gewissheit für sich gepachtet hat – aber mit dem Mut, unbequeme Fragen zu stellen. 

Lasst uns die Kirche zu einer machtloseren, aber menschenfreundlicheren Institution machen! Lasst uns mit vielfältigen Zungen reden, in den Kirchen und draußen – nicht nur zu Pfingsten.

Julia Rojahn, Vertreterin von St. Johannes

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Der Synodale Weg der Kirche - gemeinsam unterwegs trotz Corona

Angesichts des Missbrauchsskandals, immer leererer Kirchen und immer weniger Priestern war 2019 auch den deutschen Bischöfen klar, dass Kirche sich ändern muss. Ihr Vorschlag: Die Kirche in Deutschland soll einen Weg der Umkehr und Erneuerung einschlagen. Ein synodaler (gemeinsamer) Weg sollte es sein, an dem sich unterschiedlichste katholische Christen beteiligen. Aber was ist daraus bisher geworden? Die Theologin Dr. Claudia Lücking-Michel, die in Tübingen studiert und promoviert und sich während dieser Zeit in St. Johannes engagiert hat, ist heute Geschäftsführerin von AGIAMONDO, dem katholischen Personaldienst für Entwicklungszusammenarbeit, und Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK). Sie hat auch eins der vier Synodalforen geleitet, die den Erneuerungsprozess thematisch vorbereiten. Fürs Heiligsblättle hat sie aufgeschrieben, wie der Synodale Weg gestartet ist. 

Bevor die Vollversammlung des ZdK entschied, sich am „Synodalen Weg“ zu beteiligen, war heftig diskutiert worden. Wie soll man mit der Anfrage der Bischöfe umgehen, keine nationale Synode einzuberufen, sondern sich gemeinsam auf einen neuen und unbekannten Weg zu begeben? Ist das eine angemessene und erfolgversprechende Reaktion auf den Missbrauchsskandal? Wer hätte diese Frage mit einem vollen Ja beantworten können? Allerdings war schnell klar: andere, bessere Formate standen nicht zur Verfügung. 

Also ging es im Mai 2019 los. Und seither haben viele Menschen mit Engagement und großen Hoffnungen an diesem Projekt gearbeitet. Eine Satzung und eine Geschäftsordnung mussten her, Zeitplan, Arbeitsweise und Ziele des Synodalen Wegs wurden festgelegt. Die Themen waren bereits vorgegeben: „Macht- und Gewaltenteilung in der Kirche“, „Priesterliche Lebensweisen“, „neue Formen katholischer Sexuallehre“. Eine wichtige Bedingung des ZdKs war, dass mit „Frauen und Ämter in der Kirche“ ein viertes, uns sehr wichtiges Thema dazukam. Ende Januar 2020 begann mit einer ersten Plenar-
sitzung in Frankfurt die eigentliche Arbeit. Rund 200 Delegierte kamen zusammen. Vier Vorbereitungsgruppen hatten Thesen und Texte zum Einstieg in die Debatten vorbereitet. Als Vizepräsidentin des ZdKs war ich eine der Delegierten und zusammen mit Bischof Wiesemann aus Speyer verantwortlich für die Vorbereitungen zum Thema „Macht und Gewaltenteilung“. 

Mit Sorgen und Skepsis war ich nach Frankfurt gereist. Aber die gemeinsamen Tage haben mir Mut gemacht. Nicht, dass sich alle einig waren, das wäre auch eher verdächtig gewesen. Aber es wurden – so war mein Eindruck – unterschiedliche Positionen offen angesprochen und sehr persönliche Erfahrungen und Einstellungen nicht unter den Teppich gekehrt. Jede und jeder kam zu Wort. Die Spielregeln galten dabei für alle Delegierten gleich, auch wenn mancher Bischof das durchaus befremdlich fand. Am Ende standen klare weitere Arbeitsaufträge und ein verbindlicher Zeitplan. Erfüllt von Begegnungen, Gesprächen, sehr schönen Gottesdiensten und voller Hoffnungen kehrte ich nach Hause zurück. 

Doch dann? Kardinal Marx trat überraschend als Vorsitzender der Bischofskonferenz zurück. Er war bis dahin Motor und Ideengeber für den Synodalen Weg. Das nachsynodale Papst-Schreiben „Querida Amazonia“ griff die kritischen Anliegen der Amazonas-Synode gerade nicht auf, billigte nicht – wie von vielen erhofft – Ausnahmen vom Zölibat, stieß keine neue Debatte um Weiheämter für Frauen an und schien auch die „Synoden-Idee“ zu schwächen. Und dann kam auch noch Corona. 

Das kleinste Problem ist, dass seitdem alle Sitzungen und Versammlungen abgesagt werden müssen. Sehr schnell haben wir uns auf Videokonferenzen umgestellt. Jetzt aber stellen existenzielle gesundheitliche oder wirtschaftliche Sorgen unsere Gesellschaft, die internationale Gemeinschaft und die weltweite Solidarität auf eine Zerreißprobe. Welche Rolle spielt da noch Liturgie? Wer hätte vor einem Jahr für möglich gehalten, dass Gottesdienste viele Wochen lang nicht mehr stattfinden? Haben wir mit „schicken Live-Übertragungen“ gerade erlebt, wie in Zukunft der Priestermangel kaschiert werden könnte? Wer setzt die Anliegen von Maria 2.0 durch, wenn die Welt über Fallzahlen und Reproduktionsfaktoren diskutiert? Kann die zweite Plenarveranstaltung des Synodalen Wegs im September überhaupt stattfinden?

Ich bleibe zuversichtlich, dass wir uns trotz Corona und den großen Herausforderungen, vor denen Kirche und Gesellschaft stehen, Zeit nehmen, den eingeschlagenen Synodalen Weg weiterzugehen. Oder besser: Jetzt erst recht! „Der Weg entsteht beim Gehen.“ Das gilt auch und gerade für den Weg, auf dem wir als Kirche sind. Und auch auf diesem Weg dürfen wir darauf hoffen, dass Christus uns als guter Hirte begleitet. Theologin Dr. Claudia Lücking-Michel