HeiligsBlättle 6/20
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - 

Bedrohte Weihnacht

Dass die Ankunft Gottes als schutzbedürftiges Kind in dieser Welt von Beginn an auch durch Tod und Vertreibung geprägt ist, findet sich nur im Evangelium des Matthäus in der Erzählung vom Kindermord zu Bethlehem. Zu hören ist davon in den Evangelien an Weihnachten selbst nichts oder nur in Andeutungen. Die Freude über die Geburt des Gottessohnes darf überwiegen, war der Weg nach Bethlehem doch schwer genug: Josefs Zweifel an Marias Treue (Mt 1,19f.), die aufgenötigte, beschwerliche Reise von Nazareth nach Bethlehem aufgrund der durch Kaiser Augustus angeordneten Steuerschätzung (Lk 2,1) und schließlich die vergebliche Suche nach einer adäquaten Herberge für die Geburt des Kindes. Da wäre eigentlich einmal „Durchschnaufen“ und zur Ruhe kommen angesagt. Aber dafür lässt Matthäus der Heiligen Familie nur kurz Zeit.

Ein Kind, von dem geweissagt wird, dass sein Stern als neuer König der Juden aufgegangen ist, steht dem eigenen Machtstreben des Königs Herodes im Weg und muss beseitigt werden, und wenn es nicht auffindbar ist, dann eben alle Knaben in Bethlehem bis ins Alter von 2 Jahren. Nur die Flucht nach Ägypten rettet Jesus vor diesem Schicksal. Das Fest der Unschuldigen Kinder im Anschluss an Weihnachten am 28. Dezember thematisiert diesen beklemmenden Anfang des Lebenswegs Jesu. Vielleicht ist es auch deswegen etwas in den Hintergrund gerückt. Der Gedanke dass Gottes Menschwerdung gleich einen massenhaften Kindermord nach sich zieht, will nicht recht zur üblichen Weihnachtsstimmung passen.

Die Geschichts- und Bibelwissenschaft geht in der Zwischenzeit davon aus, dass dieser Kindermord nie stattgefunden hat, auch wenn Herodes nicht zimperlich war, durch Morde selbst in der eigenen Familie seine Macht zu sichern und es daher ins Bild dieses Herrschers passte. Vielmehr will Matthäus durch diese drastische Erzählung Bezüge zur Heilsgeschichte Israels mit Gott aufzeigen, indem er die Propheten Hosea und Jeremia zitiert und damit eine Verbindung zu zwei das Volk Israel prägenden Erfahrungen herstellt: die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und Jahre später aus der Babylonischen Gefangenschaft. Vertreibung, Sklaverei, Fluch und Tod, das sind Erfahrungen der Israeliten und jetzt auch des Gottes-sohnes, dieses Menschenkindes Jesu selbst. Sein Kommen in die Welt beendet diese „Machtspiele“ der Erwachsenen – deren Leidtragende vor allem die Schwächsten sind – nicht, aber es macht deutlich: ihr Weinen und Rufen wird nicht vergeblich bleiben. Gott selbst setzt sich dieser Gefährdung aus; wer den schwächsten Gewalt antut, tut ihm Gewalt an und hat sich schon um das Himmelreich gebracht (Mk 9,43ff.).
Markus Neff, Jugendseelsorger

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Prävention von sexuellem Missbrauch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart

Seit Dezember 2012 bin ich die Präventionsbeauftragte der Diözese in der „Stabsstelle Prävention, Kinder- und Jugendschutz“. Mein Auftrag ist Prävention von sexuellem Missbrauch oder – wie mittlerweile auch oft gesagt wird - sexualisierter Gewalt. Was verhindert werden soll, scheint aus dem historischen Zusammenhang klar: Sexuelle Handlungen von Mitarbeitenden der Kirche mit Kindern und Jugendlichen, die ihnen anvertraut sind, sollen zukünftig verhindert werden.

Sexueller Missbrauch war in Deutschland seit den 1980er Jahren durch die Frauen-Selbsthilfebewegung thematisiert worden. Dass es auch in der katholischen Kirche Fälle gab, war v.a. aus den USA und Irland bekannt. Seit 2002 hat die Diözese Rottenburg-Stuttgart daher aufgrund von weltkirchlichen Vorgaben eine „Kommission sexueller Missbrauch“. Diese berät den Bischof im Umgang mit Vorwürfen gegen Priester und andere Mitarbeitende. Aber erst 2010 wurde in Deutschland der sexuelle Missbrauch in der Kirche wirklich breit und aus Sicht der Opfer thematisiert. Es musste etwas geschehen!

Die deutschen Bischöfe setzten auf Prävention: In allen Diözesen wurden seitdem Stellen für Präventionsbeauftragte geschaffen, die Schutzkonzepte entwickeln, Aktivitäten koordinieren und viele Fortbildungen durchführen. Ihre Arbeit hat mittlerweile einiges bewirkt und sich in der bundesdeutschen Gesellschaft Anerkennung erworben. Ein Grund dafür liegt im Thema selbst, denn sexueller Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem: Jedes 5. Mädchen und jeder 8. Junge wird bis zum 18. Lebensjahr Opfer von sexualisierter Gewalt. Tatort ist vor allem die Familie und ihr nahes Umfeld. Ein Drittel der Fälle findet in Einrichtungen und Organisationen statt: Heime, Internate, Schulen, Kirchengemeinden, Sportvereine etc.. Weiteres Kennzeichen von sexuellem Missbrauch ist, dass es meistens keine eindeutigen Hinweise gibt. Opfer sind aus verschiedenen Gründen, v.a. aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Täter, zum Schweigen gebracht worden und funktionieren im Alltag oft weiter. Das können auch Erwachsene sein, die z.B. in Pflegeeinrichtungen schutz- oder hilfebedürftig sind. Täter*innen sind ganz normale, oft auch angesehene Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft, die sehr manipulativ vorgehen.

Präventionsarbeit verbessert den Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht nur dort, wo sie gemacht wird. Sie stärkt die Handlungsfähigkeit der Erwachsenen, verkleinert den Spielraum für Täter*innen und eröffnet Räume für Betroffene, die ihr Schweigen brechen wollen. Die breite Information über die Fakten mit Hilfe von Materialien und Fortbildungen ist daher zentral. Die Erwachsenen, die für den Schutz der Kinder und Jugendlichen verantwortlich sind, müssen dies wissen und die Verantwortung übernehmen. In einer Einrichtung oder Organisation muss auf die fachliche und persönliche Eignung der Mitarbeitenden gut geachtet werden. Hierzu gehört auch die Überprüfung auf Vorstrafen, die mittels eines erweiterten Führungszeugnisses geschieht, sowie verpflichtende Fortbildungen. Das gesamte pastorale Personal in der Diözese hat diese bereits zwischen 2014-2016 mitgemacht.

Alle sollten wissen, an wen sie sich wenden können, um sich bei einem „komischen Gefühl“ oder einem Übergriff beraten zu lassen, und bei wem man Beschwerden über übergriffiges Verhalten loswerden kann. Leitungskräfte müssen gut reagieren können, wenn sie solche Hinweise erhalten. 

Laut Präventionsordnung der Diözese muss jeder Träger, also auch jede Kirchengemeinde, ein institutionelles Schutzkonzept erarbeiten. Standards sind durch bischöfliche Gesetze vorgegeben: Einholung von erweiterten Führungszeugnissen (auch gesetzlich geregelt in §72a SGB VIII), Verhaltenskodex und Fortbildungen aller haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Aufgabe der Stabsstelle Prävention ist es, diese Prozesse in der Diözese zu gestalten und zu unterstützen.

Auch die Gesamtkirchengemeinde Tübingen (Pastoralteam und KGRs) beschäftigt sich damit. Sie positioniert sich damit klar gegen sexualisierte Gewalt. Keinesfalls bedeutet das, dass Ehrenamtliche oder Priester unter Generalverdacht gestellt sind. Aber: Alle müssen – nein: dürfen! – mithelfen beim Schutz vor sexualisierter Gewalt. Ziel ist eine „Kultur der Achtsamkeit und Verantwortung“. Unsere Gemeinden sollen zu möglichst sicheren Orten werden.

Sabine Hesse, Präventionsbeauftragte der Diözese

Weitere Informationen: www.praevention.drs.de , praevention(at)drs.de
Kommission sexueller Missbrauch: ksm-kontakt(at)ksm.drs.de, 07472 169-783

- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

„Der Fall ist nicht vorgesehen.“ – ein Erfahrungsbericht

„Herr Pfarrer, kann ich mit Ihnen reden?“ Das war die erste Begegnung mit Leo. 31. August 2009: an diesem Montag ging das BDKJ-Sommerzeltlager Seemoos in Friedrichshafen am Bodensee in seine dritte Runde. Und für die letzten beiden Ferienwochen war ich als „Lapa“ („Lagerpfarrer“) zuständig. „Herr Pfarrer, kann ich mit Ihnen reden?“ Das gab es in all den Jahren noch nie. Normalerweise brauchen die über 200 Kinder ein paar Tage, bis sie sich auf dem Platz heimisch fühlen und wissen, wem sie vertrauen können – und wollen. Und dieser Junge steht bereits am ersten Abend vor mir, mit seinen 12 Jahren, seinem Strubbelkopf und den großen braunen Augen. Irgendjemand aus dem Betreuerteam hat ein Foto geschossen, wie Leo und ich auf dem Steg sitzen. Kleiner Schatten, großer Schatten, und dahinter ein traumhafter Sonnenuntergang über dem See. Von Romantik freilich keine Spur. Der Bub aus dem Kinderdorf in Bayern erzählt mir sein kleines Leben. Nachts liege ich wach im Bett: Gott, wie kann ein Kind das alles aushalten? Missbrauch, Verwahrlosung, Gewalt. Als die beiden Geschwisterchen aus der elterlichen Wohnung geholt werden, sind sie schon seit Tagen allein. Heute weiß ich: das war erst der Anfang der Leidensgeschichte… 

Auf Leos Wunsch nach meiner Adresse gibt die Pflegemutter am Ende der Freizeit umgekehrt mir die Adresse des Kinderdorfs. Ungefähr dreimal im Jahr fahre ich die knapp 300 km von Bad Mergentheim dorthin, für einen Nachmittag. Spiele mit den Kindern, plaudere mit den Erzieherinnen, teile ein wenig den Alltag der „Familie“. Zwei Jahre später fragt mich der bereits pubertierende Leo, mehr beiläufig: „Warum kommst du uns eigentlich besuchen?“ Ja, warum eigentlich, frage ich mich. Mein ursprüngliches Anliegen 2009, auf Leos Bitte um die Adresse tatsächlich einzugehen, war die Vorstellung: dann hat er im Zweifel eine Telefonnummer, wenn er Kummer hat; eine Anlaufstelle, so wie es ihm gut tut. Denn: wenn er einmal aus dem Kinderdorf draußen ist, fehlt ihm alles das, was für mich so prägend war in meinem Leben, was mir Halt gab, Geborgenheit und Orientierung, was für mich Gegenwart und Vergangenheit und der Boden für die Zukunft war: die Familie, die Freunde, auch der Bekanntenkreis der Eltern. Einfach das, was wir so selbstverständlich „das Umfeld“ nennen. Mit Leo habe ich begriffen, wie wenig selbstverständlich das sein kann. „Warum kommst du uns eigentlich besuchen?“ Meine Gegenfrage: „Wann besucht man jemanden?“ Leo überlegt: „Wenn man ihn mag.“ Ich antworte: „Na also!“ Und Leo bekommt rosa Ohren. Ab dem Moment hat er mir vor jedem Besuch einen Kuchen gebacken.

Es folgen erste Spaziergänge zu zweit. Wir reden über Gott und die Welt. Mit 17 bekommt er auf dem Kinderdorfgelände ein 1 Zimmer-Apartment, um sich ans Alleinleben zu gewöhnen. Wir füllen miteinander den Kühlschrank. Ich zeige ihm, wie man sich rasiert, wie man die Wohnung sauber hält... Nach dem Realschulabschluss zieht Leo nach München und beginnt eine Ausbildung zum Bankkaufmann. Keine Frage, wer mit ihm die Anzüge kauft, die kleine Wohnung vollends ausstattet oder für die Zusatzkosten beim Zahnarzt aufkommt. Dafür ist das Jugendamt nicht mehr zuständig. Und auch dem Finanzamt ist das wurscht – das lerne ich spätestens bei der Steuererklärung: „Der Fall ist nicht vorgesehen.“ Umso mehr hat Leo Riesenglück mit seiner neuen Betreuerin von der Jugendhilfe. Sie stärkt ihm das Rückgrat und wäscht ihm den Kopf, wo es nötig ist. Schon beim ersten Vieraugen-Gespräch fragt sie mich, ob ich mir vorstellen könne, ihn zu adoptieren: „Sie sind die einzige Konstante in Leos Leben.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ein paar Monate später simst er, fast beiläufig: es wäre ihm lieber, wenn er Papa sagen könne. Das passe einfach besser. Und so kommt es. Erst per SMS, dann am Telefon, dann von Angesicht zu Angesicht. Papa. Was so ein Wörtchen ausmacht! Wie oft war er früher abgrundtief verzweifelt: ich bin mutterseelenallein. Mit dieser markerschütternden Erfahrung, auch am Telefon, bin ich zu meinen Eltern, die immer eingeweiht waren: Geht ihr den ganzen Weg mit? Als Omi und Opi? Das Ja kommt ohne Zögern.

Papa. Nie hätte ich gedacht, wie vertraut mir dieser Klang werden würde – und wie selbstverständlich er Leo über die Lippen geht, aus tiefster Überzeugung. Inzwischen ist Leo 23 und gehört längst zur Familie. Freilich: damit sind die Probleme nicht weg. Nach der Angst vor dem Alleinsein kommt jetzt die Angst vor der Vergangenheit. Im Kinderdorf. Abgründe gibt es beileibe nicht nur in kirchlichen Einrichtungen. Und mich schaudert, wieviel Druck ein System doch braucht, um der Wahrheit nicht mehr auszuweichen und an die eigene Schuld zu gehen. Da sind wir als Kirche, als Gesellschaft noch lange nicht durch. Entsprechend hilflos waren so manche Reaktionen auf unser Ansinnen einer Adoption – damit endlich rechtlich wird, was längst faktisch ist. Befremden v.a. im Kollegenkreis, erst recht aus der Bistumsleitung. „Leo“? Wie bitte? „Der Fall ist nicht vorgesehen.“ Überhaupt: was sollen die Leute denken! Ausgerechnet in dieser Zeit! „Der Junge muss eben alleine zurechtkommen!“, lautet ein Fazit. Aber es gibt auch andere. „Wie geht es deinem Sohn?“, fragt mich ein Weihbischof bei einem Auswertungsgespräch. Oder ein anderer Mutmacher: „Wenn DU es willst…“ Wenn ich ehrlich bin: diese Frage stellt sich mir gar nicht. Denn: wie, um Gottes willen, könnte ich ihn im Stich lassen, der – noch ein Kind – mir sein Herz ausgeschüttet hat! Leo. „Der Fall ist nicht vorgesehen.“ Stimmt! Aber er hat mich gelehrt zu ahnen, was Vatersein ist – am brennenden Dornbusch, im kirchlichen Dienst, im „richtigen Leben“: Hab keine Angst, ich bin da!
Pfarrer Ulrich Skobowsky