HeiligsBlättle 4/21
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Unterwegs sein

Die philosophische Schule des Aristoteles nannte sich Peripatos. Ihr Name leitet sich von dem Ort ab, an dem der Unterricht stattfand: altgriechisch „peripatos“ = Wandelhalle. Die Schüler des Aristoteles waren die
Peripatetiker, das heißt, sie wandelten und liefen umher, während sie über die großen Fragen des Lebens nachdachten und ihre Erkenntnisse mitteilten. Das Gehen beim Denken schien auch das Denken zu verändern, es kamen Bewegung und Lebendigkeit hinein. Jesus Christus kann sich in Johannes 14,6
nur deshalb als „Der Weg“ bezeichnen, weil er als Wanderprediger ständig unterwegs war und selbst die Eucharistiefeier als „Weg-Zehrung“ hinterließ. Diesen „Jesus unterwegs“ lernt man nur in der „Nach-Folge“ kennen, wenn man mit ihm geht. Die vielen Briefe des Apostels Paulus entstanden nicht zuletzt als Frucht seines Unterwegs seins, wenn er zwischen 2 Gemeinden 3-4 Wochen zu Fuß unterwegs war und beim Gehen die Impulse entwickelte, welche uns noch heute tief berühren. Deshalb sollten wir in unseren kirchlichen Gremien und Ausschüssen,
in denen wir so viel sitzen, uns vornehmen, immer wieder loszugehen und unterwegs über die anstehenden Beratungspunkte ins Gespräch zu kommen. Auch dem Synodalen Weg käme zugute, inmitten verhärteter Fronten einfach Mal gemeinsam einen mehrtägigen Pilgerweg zu starten, damit der Heilige Geist Bewegungsfreiheit bekommt.

Mein innerliches Unterwegs-sein ist eng an mein äußeres Unterwegs-sein gekoppelt – das eine bedingt das andere. Im Gehen erwacht in mir die Sehnsucht nach dem unendlichen Horizont und dem Unermesslichen, welches die Bibel mit dem himmlischen Jerusalem identifiziert. Am Ende einer 1-wöchigen Etappe auf dem Jakobsweg bin ich nicht angekommen, sondern ganz geöffnet, ganz unabgeschlossen, ganz Verweis auf das größere Geheimnis. Zugleich spürte ich während meiner Tübinger Zeit bei meinen regelmäßigen Spaziergängen um die Wurmlinger Kapelle „meinen“ inneren Ort, den Ort, wo Himmel und Erde sich für mich berühren: Wo ich jetzt schon daheim und mit mir identisch bin, obwohl ich unterwegs bleibe. Aus dieser Verbundenheit mit einer Wegstrecke nährte sich meine Herzensintuition und wuchsen mir meine leitenden Einsichten entgegen. Warum berührt uns unterwegs eine bestimmte Landschaft? Am Westportal der Kathedrale von Reims findet sich eine Christusskulptur: Christus als Schöpfer der Welt und des Menschen. Derselbe Jesus Christus hat als Schöpfungsmittler inmitten des Evolutionsprozesses diese mich berührende Landschaft bereits einmal mit seinen Händen berührt – derselbe Jesus Christus hat mich und mein Innerstes bereits vor meinem Leben auf dieser Erde berührt, als ich noch sein unausgeführtes Herzensanliegen war. Diese beiden Berührungen spüre ich, wenn ich unterwegs bin und mich von der Wegstrecke anrühren lasse. Ich wünsche Ihnen von Herzen, Ihre je eigene Wegstrecke zu finden und loszumarschieren. 

Mit herzlichen Grüßen aus Ludwigsburg! 

Ihr Alois Krist

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Das Baumbänkle

Am Ziel angekommen. Meine Frau und ich sitzen auf dem „Baumbänkle“ zwischen Pfrondorf und Herrlesberg unter dem schattenspendenden Birnenbaum. Die Walkingstöcke sind im Gras abgelegt. Die Sonne steht hoch über uns. Leichter Wind bewegt das Gras und die Ähren der Felder. Jeder von uns genießt das Panorama der Schwäbischen Alb. Gedankenversunken erinnere ich mich an eine Geschichte aus der Bibel, die Markus (Mk 2,23-28) überliefert hat. Am Anfang ein Garten. Ein Feiertagsspaziergang. So beginnt diese Geschichte. Ganz harmlos, ganz zweckfrei. Einfach nur so durch die Felder streifen. Sich unterhalten mit den Freunden. Die Hände durch die Ähren gleiten lassen. Hin und wieder ein paar Körner abzupfen, sie zerreiben und daran kosten. So oder ähnlich stelle ich mir das vor. Damals mit den Jüngern und Jesus. Ein Idyll. Aber die Freude währt nicht lange. Mitten hinein in das feiertägliche Spaziergangsparadies platzen die Pharisäer. Und mit ihnen die unbequemen Fragen. Was tut ihr da? Was soll das werden? Überhaupt, wer hat euch das erlaubt? Zack, vorbei, Feiertagsstimmung futsch! So schnell kann´s gehen, wenn uns die Falschen begegnen. In diesem Fall die Pharisäer. Es ist Sabbat, da darf man keine Ähren zupfen, denn Ähren zupfen ist ernten und ernten ist Arbeit und Arbeit ist am Sabbat verboten. Steht schon im dritten Gebot. Du sollst den Feiertag heiligen. Und da haben sie Recht, die Pharisäer. Wir sollten den Feiertag heiligen, denn Gott selbst, nachdem er Himmel und Erde geschaffen hatte, ruhte am siebten Tag. Der Ruhetag, der Sabbat, ist so etwas wie die Komplettierung der Schöpfung. Und wie Gott ruhte, sollen auch wir ruhen. Nicht allein die Arbeit macht uns Menschen aus. Nicht die To-do-Liste, nicht das man muss. Aber auch nicht, liebe Pharisäer, das Man-darf-nicht. Man lobt Gott nicht, indem man überall Verbotsschilder aufstellt. Deshalb verteidigt Jesus seine Jünger vehement gegen den Einspruch der Pharisäer. Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht umgekehrt. Das Ruhen schließt den Genuss nicht aus. Im Gegenteil. Das Ährenzupfen am Sabbat ist deswegen auch kein Arbeiten, sondern ein Genießen. Und wie könnte man Gott besser loben, als wenn man seine Schöpfung genießt. Der Ruhetag, der ist so etwas wie die Erinnerung an den Garten Eden. Wir brauchen solche Momente. Dringend. Momente, in denen wir unsere Pflichten und die Zeit vergessen. In denen wir Gedankenverloren und Zweckfrei nur im Hier und Jetzt sind. So wie die Jünger damals in ihrem Spaziergang durch die Felder.

Wir betrachten die Schattierungen in den Farben des Grases, der Ähren und der Bäume, die sich leicht im Wind bewegen. Und in der Weite das Ineinandergehen der unterschiedlichen Ausformungen der Schwäbischen Alb mit ihren Fixpunkten. In diesen Momenten der Nähe und Weite können wir entdecken, was in uns noch brach liegt und Ruhe braucht. Und was in uns selber wächst und grünt und blüht. Und uns kann bewusst werden, dass wir in einem größeren Zusammenhang stehen. Die wesentlichen Dinge im Leben können wir nicht machen, sondern uns nur schenken lassen. Karl-Heinz Röll, Lustnau

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»Droben steht die Kapelle/schauet still ins Tal hinab …«

Diese Verse von Ludwig Uhland kenne ich seit meiner Kindheit, und das Lied haben wir in unserer Familie oft bei längeren Autofahrten gesungen; allerdings mit einer etwas anderen Melodie, als sie hier üblich ist. Denn ich bin im Rheinland aufgewachsen – und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass es in dem Lied um eine „echte“ Kapelle geht, eine Kapelle, die es wirklich gibt … und die ich jetzt, während ich diesen Text schreibe, von meinem Wohnzimmerfenster aus sehe. 

Über den Spitzberg und rund um die Wurmlinger Kapelle führen mich auch fast jede Woche meine Sonntagsspaziergänge, die mir in all den Jahren noch nie langweilig geworden sind, mit ihrem weiten Blick über das Neckartal und den Albtrauf bis zur Burg Hohenzollern – und mit den verwurzelten Waldwegen. Spaziergänge, von denen ich im Frühjahr oft mit Blumen und im Herbst mit Kastanien in der Hosentasche zurückkomme. Bei denen ich zwar noch nie den „Hirtenknaben“ aus Uhlands Gedicht gesehen habe, aber schon oft Schafherden mit Lämmern, über deren wilde Sprünge ich oft laut lachen muss. Der Wettersegen ist hier überall ganz nah: „Er segne die Felder, die Gärten, die Weinberge und den Wald.“ Wenn man, wie ich, aus einer Industrieregion kommt, fragt man sich manchmal, ob das alles nicht fast „zu idyllisch“ ist. Doch so volksliedhaft Uhlands Gedicht auch klingt – eine „heile Welt“ beschreibt es nicht: „Stille sind die frohen Lieder“, so heißt es in der zweiten Strophe, als der Hirtenknabe mit der Realität des Lebens, dem für jeden Menschen unausweichlichen Tod, konfrontiert wird – so wie wir alle im vergangenen Jahr mit der Corona-Pandemie.

Im Laufe der Zeit ist die Wurmlinger Kapelle für mich so etwas geworden wie ein sichtbarer Hinweis auf den, der auf alles hinabschaut und uns Menschen im Tal in allem begleitet: Eine Ermutigung, dem Beängstigenden und Traurigen nicht auszuweichen und sich zugleich an allem Schönen zu freuen. So gibt es für mich an einem heißen Sommertag wohl kaum etwas Besseres als im Hirschauer Baggersee schwimmen zu gehen – „unter dem Blick der Kapelle“.
Anne Thillosen, Hirschau

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Durchs Ehrenbachtal auf die Härten

Sommers wie winters führt eine meine Lieblingswanderungen von der Tübinger Südstadt nach Immenhausen und von dort in Richtung der Wankheimer Aspenhausiedlung. Von dort geht es entweder
über den Schindhau und das Französische Viertel oder den Aspenhau und Galgenberg zurück in die Südstadt. Ein kleiner Abstecher in das Steineparadies der Firma Rongen lohnt sich zusätzlich und ist kein Umweg! Lieblingswanderung? – Wer mit- oder auch alleine gehen (oder evtl. auch mit dem Rad fahren) möchte, bekommt ein hübsches kleines Bachtal (mit großen Blumenwiesen, einer tollen Grillstelle, einem großen Spielplatz, einem Froschtümpel, einer Quelle und einem auffällig gestalteten Brunnen) weitab vom Verkehr zu sehen und kann sich auf dem weiteren Weg über gepflegte Streuobstwiesen freuen und einen grandiosen Weitblick über den Albtrauf vom Hohenneuffen bis zum Lemberg genießen. Weitere Blicke lohnt das Heilbrünnele und ein altes Sühnekreuz im Wald, dessen Herkunft und Begründung bekannt ist und auf einer Erklärungstafel nachgelesen werden kann. Zum Schluss aber nicht zuletzt kann man auch von mehreren Stellen aus auf unsere gesamte, wunderschöne Heimatstadt „herunterblicken“. Vieles, was Wandern auf der Schwäbischen Alb ausmacht, habe ich hier auf etwa 15 km Strecke und nicht einmal 200 zu überwindenden Höhenmetern direkt vor der Haustür - buen camino oder „ultreia“!  
Andreas Anlauf, Südstadt

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Auf die Höhe zum Herrn

Mein Tipp für eine Entdeckungsreise im Tübinger Norden führt zu der aus meiner Sicht schönsten Tübinger Kirche. Denn die St.-Paulus-Kirche ist nicht nur eine Station einer Nachmittagswanderung. Das Kirchengebäude selbst schafft Raum für eine lange Entdeckungsreise – zu Gott, zu sich selbst, zum Nächsten, zur Welt.

Anlass dazu geben vor allem zwei Dinge. 1. Diese Kirche ist ein luftiges Zelt. Lichtdurchflutet. Kein dunkler, abgeschotteter Tempel. Altar und Ambo stehen in der Mitte des Raums, nicht hierarchisch abgehoben und weit weg. Diese Zeltkirche ist der Raum für das Volk Gottes, das sich bewegt, das nicht starr und still steht, sondern sieht, was Menschen brauchen und was die erlösende Botschaft Jesu heute bedeutet. 2. Höhepunkt der Entdeckungsreise in der Kirche ist für mich ihr Kreuz. Auf den ersten Blick nur zwei schlichte Holzbalken. Doch je näher man kommt und desto länger man hinschaut, desto mehr erkennt man den Menschen, der da hängt. Hände, Füße, Kopf und sogar eine Krone geben sich vorsichtig zu erkennen. Und dann hängt dieses Kreuz nicht irgendwie an der Wand. Es ist vielmehr so aufgehängt, dass der Querbalken zwei Welten verbindet, die von einem tiefen Einschnitt getrennt sind. Da steckt so viel drin, das kann man nicht alles beschreiben, das muss man gesehen haben! Immer wieder!

Wer nicht nur St. Paulus entdecken möchte, dem sei als Startpunkt die Haltestelle von Buslinie 5 am Botanischen Garten empfohlen. Hier kann man auch ein Auto parken und zunächst einen Streifzug durch die wunderbare Vielfalt der Natur im Arboretum und /oder dem Botanischen Garten unternehmen. Dann geht es auf der Ebenhalde ein Stück in Richtung Rosenau und kurz nach der Einbiegung in die Rosenau nach rechts den Berg hinauf. Der Waldweg führt zum Heuberger Tor. Von dort Richtung Waldhausen halten. Auf der Höhe sieht man schon rechts das Zeltdach der Pauluskirche, lässt das letzte Dorf Tübingens links liegen und wandert der Kirche entgegen. Nach der Entdeckungsreise im Kirchenraum gelangt man über das Einkaufszentrum Wanne auf dem Luise-Wetzel-Weg direkt zum Botanischen Garten zurück. Oder man zieht noch eine Schleife durch das Elysium zum Geografischen Mittelpunkt Baden-Württembergs und von dort über den gestuften Weg zum Ausgangspunkt zurück. Fürs leibliche Wohl sorgen unterwegs der Waldhäuser Hof, das Café an der Kunsthalle oder das Hofgut Rosenau.
Ludwig-Michael Cremer, Nordstadt

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Ein Weg, unspektakulär, aber immer da.

Seit vielen Jahren wohne ich auf dem Sand, in unmittelbarer Nähe zum Wald. Unzählige Mal bin ich in ihn hineingelaufen – vom Sandparkplatz aus, vorbei am Fitness-Häuschen und dem Wegeplan, immer geradeaus. Der Weg ist breit und gesäumt von großen, stattlichen Buchen, Eichen, einigen Kiefern und Lärchen. Es ist ein breiter Forstweg, den wir diesen Winter sogar mehrfach mit dem Schlitten befahren konnten. Nach circa 150 Metern macht der Weg eine Kurve nach links und steigt leicht an. Geradeaus geht es über einen Trampelpfad weiter auf dem Trimm-Dich-Pfad aus den 80er Jahren. Vereinzelt entdeckt man noch Überreste davon. Ein rundes Holzschild, halb verwildert, an einer Eiche angebracht, ein rosafarben angemalter Barren, Holzbalken zum hochklettern am Hang. So schlängelt sich der Weg durch den Wald. Rechts unterhalb die Straße nach Bebenhausen, links oben die Berliner Siedlung. Man könnte hier weiterlaufen, durch den Schönbuch, über Bebenhausen, bis nach Holzgerlingen, ohne den Wald verlassen zu müssen. Oder man biegt, wenn man den kleinen Anstieg geschafft hat, ab und erreicht so wieder den breiten Waldweg zurück zum Sandparkplatz. 

Er ist nicht spektakulär der Weg, keine Naturschönheit, kein klassisches Ausflugsziel, aber er war und ist immer da. Ich bin ihn alleine und in Begleitung gelaufen, morgens vor Sonnenaufgang und abends nach Sonnenuntergang. Mit meinen Kindern habe ich hier die neuen Schnitzmesser ausprobiert und mit dem Hund von Freunden bin ich Gassie gelaufen. Auf diesem Weg habe ich diskutiert, gehofft, geweint, getrauert und mich gefreut. Er ist in den Jahren ein Teil von meinem Alltag geworden. Er ist da und ich kann hier einfach sein – ohne großen Aufwand. 
Martin Bertele, Sand Lustnau 

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Wanderweg von Kilchberg nach Bühl

part 1

Vor 10 Jahren bin ich mit meiner sechsköpfigen Familie nach Kilchberg gezogen. Neben der herzlichen Offenheit der Kilchberger gegenüber „Zugezogenen“ gab es vor allem einen Wanderweg, der uns in den vergangenen Jahren ans Herz gewachsen ist und in den vergangenen 16 Monaten zum Seelentröster und Naherholungsort wurde: Die kleine Wanderung beginnt am Ostrand Kilchbergs, dem historischen Keltengrab, das seinen Ursprung in der Zeit um 500 vor Christus hat und eines der ältesten regionalen Denkmale ist. Von diesem mystischen Ort aus hat man eine gute Sicht auf das Nachbardorf Weilheim und den im Süden über den Horizont verlaufenden bewaldeten Höhenzug namens Rammert. Vom keltischen Hügelgrab geht´s  Richtung Westen, vorbei an der prägnanten Schlossanlage der Freiherren von Tessin zur evangelischen Martinskirche, die auf einer kleinen Anhöhe steht und deren Bau bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht. Das liebenswerte Kirchlein wurde im 16. Jahrhundert zur gotischen Kapelle ausgebaut und ist mit sehenswertem Kreuzgratgewölbe von innen und außen ein Schmuckstückchen. Von der Martinskirche geht’s in den Süden über die Talhäuser Straße entlang an alten Fachwerkhäusern in Richtung Rammert. Am Waldrand liegt rechter Hand der kleine Kilchberger Friedhof, schon von Weitem zu erkennen an den riesigen uralten Silberpappeln, die, wie Zwillinge oder ein Liebespaar dicht ineinander verschlungen, den Eingang säumen. Das grün-silbrige Laub und das Spiel des Lichts in der Krone vermitteln eine friedliche Ruhe, der man auf dem Bänkchen an der Friedhofsmauer gut nachspüren kann. Direkt an der Friedhofsmauer öffnet sich dazu der Ausblick auf prächtige Obstbaumwiesen, in etwas weiterer Ferne den Österberg und die Tübinger Altstadt. Abends wird dieses Panorama gelegentlich untermalt durch die Klänge der Kapelle des Weilheimer Musikvereins oder des Kilchberger Posaunenchors. So eingestimmt auf innere Einkehr geht’s über den nach rechts abbiegenden Waldweg in den Rammert. Auf diesem Weg begegnen Wanderer, Jogger oder Mountainbiker einander eher selten. Da sich der Weg immer am Waldrand entlangschlängelt, läuft man auch kaum Gefahr sich zu verlaufen, was in den Tiefen des Rammerts durchaus passieren kann. 

Der innere und äußere Horizont erweitert sich im Laufe des Weges, da sich durch die prächtigen Rotbuchen, Fichten, Waldkiefern und Eichen rechterhand ein wunderbar weitläufiger Blick auf Kilchberg, Hirschau und die Wurmlinger Kapelle öffnet. Auf dieser einladenden Wegstrecke, mit dem Angebot zu zahlreichen Perspektivwechseln, fand ich den optimalen Ausgleich zum alltäglichen zweidimensionalen zoom-Teams-skype-Webex-BigBlueButton-Leben auf wenigen Quadratmetern. 

Kurz vor Bühl führt der Waldweg weiter nach links oben, mein Wanderwegle biegt jedoch nach rechts unten, auf einen Trampelpfad, der auf einen Weg durchs Naturschutzgebiet hinleitet und am Bühler Ortsrand endet. Von dort aus geht´s über einen der gut begehbaren Feldwege retour nach Kilchberg. Diese Wanderung soll ihr vorläufiges Ende aber bei der katholischen Dorfkirche St. Pankratius im Zentrum der Gemeinde Bühl finden – Ausgangpunkt einer weiteren Erlebnistour.
Cornelius Ambros, Kilchber

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Spaziergang rund um Bühl

oder Fortsetzung des Weges aus Kilchberg part 2

Was hatten wir für tolle Wege vor uns in den Jahren 2019 und 2020: Wandertouren im Bregenzerwald, Sightseeing in New York, karibischer Sand zwischen den Zehen…. Und was ist aus all diesen Wegen geworden? Die Pandemie hat dafür gesorgt, dass wir uns immer noch darauf freuen dürfen. Aber wenn einem die Ferne verwehrt ist, lernt man die Nähe kennen und schätzen. Eine Tour, die uns in dieser Zeit erfüllt hat, beginnt bei der Kirche St. Pankratius in Bühl. Man mag sich fragen, warum ab Bühl nach Westen die Kirchen katholisch und nach Osten evangelisch sind. Der Grund liegt darin, dass hier die Grenze zwischen dem katholischen Vorderösterreich und den evangelisch geprägten Herrschaften der ortsansässigen Freiherrn lag. Wir queren die Hauptstraße und folgen der Mauer des 1554 errichteten Schlosses Bühl bis wir in einem Rechtsbogen auf den Radweg Richtung Rottenburg gelangen. Kurz nach dem Ortsschild liegt linkerhand ein Feldkreuz. Solche Flurkreuze sind besonders häufig in katholischen Landstrichen zu finden. Kurz darauf steht auf der rechten Seite eines der Bildstöckle, die jahrhundertelang v.a. in katholischen Regionen als Anregung zum Gebet unterwegs, als Zeichen der Dankbarkeit oder zum Gedenken an Unglücksfälle errichtet wurden. 

Wir biegen anschließend nach links ab in Richtung Rammert. Nach einer leichten Steigung erblicken wir das nächste Feldkreuz am Waldrand. Mit langer Tradition wird hier nach einer Prozession an Christi Himmelfahrt der „Gottesdienst im Grünen“ gefeiert Linker Hand liegt das idyllisch gelegene Bühler Tal, welches immer einen Spaziergang wert ist! Heute allerdings biegen wir nach rechts ab. Den Blick in Verlängerung des Weges gerichtet, taucht am Horizont der Kirchturm der Nachbargemeinde Kiebingen auf. Gemütlich abwärts schlendernd, führt unser Weg am nächsten Feldkreuz nach links in die Obstbaumwiesen. Der kurze Anstieg führt zur für uns schönsten Bank rund um Bühl. Der Blick bietet ein weites Panorama: vom Kreuzerfeld über Rottenburg und die umliegenden Ortschaften sowie die Wurmlinger Kapelle bis nach Tübingen.

Ausgeruht machen wir uns auf in Richtung Kiebingen, weiterhin durch die Streuobstwiesen bis zur nächsten Möglichkeit rechts abwärts mit dem Ziel, die Landstraße zu überqueren und zu schauen, ob im Wildgehege gerade junge Rehkitze zu entdecken sind. Den Bahngleisen folgend gelangen wir an den Ausgangspunkt zurück. Diesen Weg haben wir erst in den Zeiten entdeckt, in denen wir nicht in die Ferne durften, er erinnert uns an den Leitspruch meines Vaters „Lerne Deine Heimat kennen“…
Eva Faiss, Bühl

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Die Kunst des Flanierens:

Der Weg ist das Ziel

So unterschiedlich und vielseitig die in diesem Heft beschriebenen Wanderungen und Wege auch sein mögen, sie haben eines gemeinsam: Eine feste Route, markante Wegepunkte, mehr oder weniger
präsente Wegweiser. Auf den Punkt gebracht: Ein Ziel. Dieser Text möchte Ihnen das Gegenteil schmackhaft machen: Das Flanieren. Das planlose Umherschlendern, das spontane Umherschweifen und genussvolle Abschweifen. Machen Sie sich auf den Weg. Aber ohne Ziel. Am besten ohne feste Zeitvorgabe. Packen Sie eine Flasche Wasser ein. Starten Sie in Ihrem Stadtviertel. Oder nehmen Sie den Bus und steigen an irgendeiner beliebigen Haltestelle aus. Für die Schwaben unter Ihnen: Samstags benötigen Sie dazu nicht einmal ein Ticket.

Völlig egal ob Altstadt, Industriegebiet, Vorort oder Neubaugebiet, völlig egal zu welcher Tageszeit. Spazieren Sie einfach los. Lassen Sie sich treiben. Biegen Sie dort ab, wo es Ihnen gefällt – und nicht, wo es Ihnen ein Wanderführer vorschreibt. Das Abenteuer wartet hinter der nächsten Ecke. Entdecken Sie neue Facetten in der Stadt, genießen Sie den Augenblick. Schauen Sie, freuen Sie sich auf spontane Begegnungen. Mit der Natur, der Architektur und alten Bekannten. Sie wollten schon immer wissen, wo dieser oder jener Weg endet? Wie wohl der Hinterhof des unscheinbaren Gebäudes aussieht? Was sich hinter einem unverständlichen Schild verbirgt? Beim Flanieren werden Sie nicht zwangsläufig die Antwort auf diese konkreten Fragen erhalten, stattdessen aber unerwartet Antworten auf Fragen finden, die Sie sich gar nicht gestellt haben. Entdecken Sie Stadt, Land und Fluss mit anderen Augen und einem unvoreingenommenen Blick. Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf – und halten Sie den Moment fest. Wenn Sie gefragt werden, wo Sie gestern waren, liegt die Antwort nahe: Nirgends und doch überall. Denn der Weg ist das Ziel. 
Moritz Geisel, Südstadt