Predigt

Pfarrer Ulrich Skobowsky
gehalten am 23. Januar 2022 in St. Johannes
nach der Publikation des Gutachtens zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Diözese München-Freising
 

„Seid nicht traurig und weint nicht… Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am Herrn ist unsere Stärke.“ Worte aus der heutigen Lesung aus dem achten Kapitel des Propheten Nehemia, die noch einmal existentieller klingen, nochmal eindrücklicher wirken nach einer Woche voller Übelkeit und Bauchschmerzen. Worauf mich stützen, wo das Schiff der Kirche zu kentern scheint? Woran mich festhalten?

„Die Freude am Herrn ist unsere Stärke“. Bitten wir ihn um die Kraft, den Herausforderungen dieser Zeit nicht auszuweichen mit falscher Frömmigkeit oder billigen Vertröstungen, mit schnellen Antworten oder einfachen Auswegen. Bitten wir ihn um seine Führung und um sein Erbarmen. 

 

Man verzeihe mir den Vergleich: Die Kirche ist in einer ähnlichen Situation wie Deutschland nach Drittem Reich, nach Holocaust und verlorenem Krieg. Ganz unten. Sie hat kein Mitleid zu erwarten, keinen Respekt – und noch lange keinen Bedarf an Differenzierung. 

Es gibt kein Recht auf Vergebung. Unvorstellbares Unrecht ist geschehen, gedeckt von anderen. Und für die, die die ganze Zeit geschlafen haben, gibt es ein fürchterliches Erwachen.

Eigentlich wollte ich heute eine Predigt machen über die wunderschönen Texte des Tages. Aber mir ist schnell klar geworden, dass es kein Ausweichen gibt, auch und gerade nicht im Sonntagsgottesdienst. Ich kann kein Schuldbekenntnis sprechen oder anderen aufnötigen, wo ich und diese keine Schuld auf sich geladen haben. (Ähnlich wie manche Bischöfe, die nun auslöffeln müssen, was Kollegen oder Vorgänger ihnen eingebrockt haben.)

Und doch stehen wir in der Verantwortung, müssen antworten, ob wir wollen oder nicht, wenn wir überhaupt noch gefragt werden von „den anderen“. 

Knapp 15 Monate bin ich jetzt Pfarrer hier und erlebe, was unsere Gemeinden vor Ort bewegt und was sie bewegen, wie viel Gutes geschieht und wo der Geist Gottes spürbar am Wirken ist. Und gleichzeitig unterschreibe ich Woche für Woche Austrittsbrief um Austrittsbrief.

Allein im ersten Halbjahr des vergangenen Jahres waren es in St. Johannes 130 – das entspricht ziemlich genau zwei Prozent. In einem Halbjahr. Wo führt das hin, frage ich mich. Stehen wir vor den Ruinen unserer Existenz – wie damals der Rest des Volkes Israel im Buch Nehemia, zurückgekehrt aus der Verbannung und nun versammelt, um das Wort Gottes zu hören? Das Wort Gottes, immerhin! Der Blick auf die Tagesnachrichten offenbart keine heilsamen Worte – hier geht es um Aufdeckung und Analyse. Von Trost keine Spur.

Für mich kommen die Ergebnisse aus München überhaupt nicht überraschend, es käme einem Wunder gleich, wenn es anders gewesen wäre. Vertuschen, versetzen, ausweichen, sich nicht erinnern, nicht wahrhaben wollen. Weil nicht sein darf, was nicht sein kann. Ehrlich: Das hat System in der Kirche, das ist das System. Seit vielen Generationen. In bekannten theologischen Streitfragen und in der Moral. Besonders grausam, besonders unverzeihlich, wo es um Missbrauch geht.

Missbrauch ausgerechnet dort, wo ständig von Heil die Rede ist. Schlimmster Machtmissbrauch ausgerechnet dort, wo das Reich Gottes gepredigt wird. Schwerste sexuelle Verfehlungen ausgerechnet dort, wo Beichtstuhl und Lehramt bis ins Schlafzimmer hineinregiert haben. Die ganze große, fromme Blase scheint geplatzt zu sein. Die „allein Seligmachende“ steht plötzlich nackt und bloß da; am Pranger die unantastbare Moral, der Lächerlichkeit preisgegeben. 

Zeichenhaft die Fotos des zerbrechlich wirkenden greisen Benedikt im Rollstuhl, die so gar nicht zusammen passen wollen mit seiner einstigen, oft unerbittlichen Wirkmacht vor allem als Leiter der Glaubenskongregation. Ich sage es ehrlich – bei allem Schaudern angesichts des aufgedeckten Versagens: Ich halte, wie auch in anderen Zusammenhängen, diese Art von Fotos, diese Art von Zurschaustellung für unanständig, verletzend, ja voyeuristisch.

Und zugleich für absolut nachvollziehbar in unserer medialen Welt. Denn mit Selbstinszenierung, mit Pomp und Publikumswirksamkeit kennt sich Kirche aus wie keine andere Institution der westlichen Welt. Sie hat dieses Pfund wie viele Male weidlich genutzt. Nun also: die krasse Anti-Selbstdarstellung.

Und: je weiter weg Menschen von der Kirche sind, je weniger Ahnung sie von Kirche haben, umso mehr fokussiert sich eben der Blick auf Symbolfiguren – wie Papst und Bischöfe. Das ist unser Schicksal, die Tragik der Menschen in den Gemeinden vor Ort. Was dort läuft, ist gesellschaftlich unverzichtbar, aber für die öffentliche Meinung völlig uninteressant.

Da hilft uns auch nicht der Hinweis, dass Missbrauch ein gesamtgesellschaftliches Problem ist. Da hilft uns auch nicht die Beobachtung, wie sich andere Kirchen und gesellschaftliche Institutionen oder Organisationen gerade sauber hinter der katholischen Kirche verstecken, bei denen es, wie Hochrechnungen der Missbrauchsforschung nahelegen, hinter den Kulissen kein bisschen besser aussieht.

(Allein in den letzten beiden Tagen habe ich von zwei Schulvertretern auf Regional- und Regierungspräsidiumsebene unabhängig voneinander gehört, dass unverändert übergriffige Lehrer an andere Schulen versetzt werden. Pflichtfortbildungen, wie sie für alle Dienste in unserer Diözese generalstabsmäßig durchgeführt wurden und auch in Vereinen gang und gäbe sind; Pflichtfortbildungen in Prävention – etwa für Sportlehrer oder vor Schullandheimaufenthalten? Fehlanzeige!)

Darum geht es aber gerade nicht. Es geht um Missbrauch in der katholischen Kirche. Denn die hat sich wie keine andere Macht als moralische Instanz verstanden und verhalten, oft zu Recht und Gott sei Dank – oft aber auch in krassem Widerspruch zu Jesu Wort, das Gesetz sei für den Menschen da und nicht umgekehrt. Hochmut kommt vor dem Fall. Jedes Dunkel kommt irgendwann ans Licht.

(Das freilich möge allen jenen in unserem Land ein vorsichtiger Hinweis sein, die jetzt, quasi als säkulare Nachfolger des einstigen kirchlichen Moralmonopols, den Zeigefinger ausstrecken. Auch die Stimmen jener vielen, deren Missbrauch woanders passiert und dessen Aufklärung entsprechend keinerlei gesellschaftliche Lobby hat, werden früher oder später gehört werden.)

Zurück zu uns. Was tun? Wie kommen wir aus dieser Nummer raus? Augen zu und durch? Oder aufgeben? Austreten? Wohin? Ich stelle mir Jesus vor, wie er in der Synagoge von Nazareth steht – wie er im vierten Kapitel des Lukas-Evangeliums beschrieben ist. Er kennt doch die Leute, es ist seine Heimatstadt. Er weiß, wo es klemmt. Er kennt die Verhältnisse. Er sieht die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen der Regelgenauigkeit der Pharisäer und gleichzeitig ihrer Unfähigkeit, diese Regeln zu beherzigen, sie mit Geist und Leben zu erfüllen. Eigentlich könnte Jesus den Bettel gleich am Anfang seines Wirkens schon wieder hinschmeißen. Es ist zum Verzweifeln

Das tut er nicht. Er redet Tacheles, und prompt geht es ihm an den Kragen. Das lässt ihn nicht kalt. Und er verlässt Nazareth, aber er flieht nicht. Er geht dorthin, wohin der Geist ihn führt, wo Gott ihn braucht. Wozu braucht? „Damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze…“ So hat Jesus es bei Jesaja gelesen: „Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt.“ Mensch, es geht um mich! Heute! Jesus fällt es wie Schuppen von den Augen.

Wer sind diese Armen, hier, in Tübingen? Wo sind hier Menschen gefangen – und kommen nicht heraus? Wer ist wie blind, sieht nur noch dunkel – und sehnt sich nach Licht, nach Gemeinschaft? Die katholische Eigenwelt ist in Schockstarre. Die Kameras sind fest ausgerichtet. Aber das Leben der Menschen geht weiter – und ihre Sehnsucht und Bedürftigkeit auch. Das ist unsere Welt. Ganz unten. Das ist mein Auftrag. Heute! Gottes Idee für uns.

 

Fürbitten

Jesus, du Ursprung unseres Glaubens und unserer Hoffnung, mit großen Sorgen schauen wir auf unsere Kirche, auf deine Kirche – mitten in einer Welt, die sowieso schon an der Kante steht. Mit zaghaftem Vertrauen beten wir: 

Komm, Herr Jesus… Zu den Opfern von Missbrauch damals und heute.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die daran zerbrechen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die sich nicht zu öffnen wagen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die den Mut haben zu reden.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die ihnen hilfreich zur Seite stehen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die weggeschaut haben und immer noch wegschauen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die vertuscht haben und immer noch vertuschen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die schwerste Schuld auf sich geladen haben.

Komm, Herr Jesus… Zu den Tätern und Täterinnen, den lebenden und den toten.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die zu Hause oder im Darknet ihr Unwesen treiben.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die maßlos enttäuscht sind.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die an der Aufarbeitung oder Aufklärung arbeiten.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die zu Unrecht im Gefängnis sitzen.

Komm, Herr Jesus… Zu den Opfern von Gewalt und Terror und Krieg.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die politisch mit dem Feuer spielen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die sich um Frieden, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit mühen.

Komm, Herr Jesus… Zu den Vergessenen in Lagern und auf der Flucht.

Komm, Herr Jesus… Zu den Kranken und Einsamen.

Komm, Herr Jesus… Zu den erschöpften Pflegekräften und Ärzten.

Komm, Herr Jesus… Zu den Corona-Verlierern.

Komm, Herr Jesus… Zu den Ausgebeuteten dieser Erde.

Komm, Herr Jesus… Zu den Armen und Hungrigen.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die frieren in dieser Welt.

Komm, Herr Jesus… Zu denen, die alles verloren haben.

Komm, Herr Jesus, du unser Trost und unsere Freude, du unsere Freiheit und Gerechtigkeit, du unser Weg, unsere Wahrheit, unser Leben – heute und in Ewigkeit. Amen.