HeiligsBlättle 5/21
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Brauchen Christen Patientenverfügungen?

Lernt von den Lilien des Feldes, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. Wenn aber Gott schon das Gras so kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen in den Ofen geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen! (…) Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. (Mt 2,28ff)

Wir Menschen sind geschichtliche Wesen: das Erinnern an gestern prägt unser Denken an das morgen. Sowohl individuell als auch kollektiv leben wir in diesem Modus. Dabei tendieren wir aber zur Sorge und Angst vor dem, was werden könnte. Was uns ängstigt, ist einerseits die blanke Ungewissheit der Zukunft und andererseits die einzige uns bekannte Gewissheit: der eigene Tod. An diesem Urgrund unserer Existenz setzt die Botschaft Jesu an: Wer an den bedingungslos liebenden Gott glaubt, der kann eine Gewissheit erfahren, die vom Tod befreit, Ängste reduziert und Sorgen erleichtert.

Und doch gilt es, seine Botschaft hier nicht misszuverstehen: Wir bleiben geschichtliche Wesen, sollen verantwortungsvoll die Welt gestalten und mit praktischer Voraussicht handeln. Als Bauhandwerker wusste Jesus nur zu gut um die Bedeutung einer klugen Planung, brachte dies im Gleichnis vom Hausbau zum Ausdruck (Mt 7,24ff) und bereitete sein öffentliches Wirken durch die Wüstenzeit und die Auswahl geeigneter Jünger praktisch-vorausschauend vor. In seinen Abschiedsreden verkündete er den Jüngern sein Lebensende und bereitete sie auf das Danach vor. 

Als Christen dürfen und sollen wir durchaus unser Lebensende bedenken. Dabei kann uns gerade der Auferstehungsglaube helfen, nicht verbissen-verzweifelt an jeder Stunde des Lebens zu kleben, sondern in bestimmten Lagen gelassen den Tod zu akzeptieren. Nun haben wir aber heute ein Medizinsystem, das unser biologisches Leben wirkungsvoll verlängern kann, und zwar selbst dann, wenn unser biographisches Leben schon abgeschlossen ist und uns nur noch sinnloses Leiden erwartet. Hierfür wurde vor rund 50 Jahren die Patientenverfügung erfunden, da solche Entscheidungen über Leben und Tod sowohl Ärzte wie Angehörige überfordern kann. Was aber nur wenige wissen: die Patientenverfügung hält nur dann, was sie verspricht, wenn sie im Rahmen von Beratungsgesprächen erstellt wird. Dieses Modell entwickelt sich zur Zeit als „Gesundheitliche Versorgungsplanung“ oder „Behandlung im Voraus Planen“. Es fördert nachweislich ein selbstbestimmtes Lebensende, tut dies aber im kommunikativen Miteinander und erlaubt uns als Christen, für uns und unsere Nächsten praktische Vorsorge zu treffen, anstatt der Sorge und Angst vor morgen zu erliegen. 

Prof. Dr. Dr. Ralf Jox, UNIL Faculté de biologie et de médicine, Lausanne

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Krebs mit Anfang Dreißig

Schwanger! Große Vorfreude auf weiteren Familienzuwachs. Unmittelbar danach die Mitteilung, dass mein „Brustkrebsgen“ mutiert ist. Den Kopf eigentlich voller Schwangerschaftsthemen stellt sich die Frage, was diese Mutation für mich bedeutet. Werde ich - ebenso wie meine Mutter - an Brustkrebs erkranken? Vielleicht halb so wild, schliesslich hat sie die Therapie vor sechs Monaten gut überstanden. Startschuss zum Vorsorgemarathon - unter anderem regelmäßiger Ultraschall der Brüste. Mehr war aufgrund meiner Schwangerschaft nicht möglich. Reicht ja auch - versicherten die Ärzte. Dann eine Untersuchungspause, weil die Ärzte in einer hormonell veränderten Brust nichts mehr erkennen können. Geburt, Eingewöhnung, Familienzeit, Seligkeit. 15 Monate später der nächste Ultraschall, der Wächterlymphknoten ist deutlich größer als er sein sollte. Wenige Tage später folgte die Entfernung des Lymphknotens mit einem histologisch eindeutigen Befund: bösartige Zellen mit dem Ursprung Brustgewebe. Dann ging die Suche los - leider erfolglos:  kein Primärtumor zu finden. Erst nach einer weiteren umfangreichen Untersuchung war klar, dass eine Stecknadelkopf große Veränderung in der Brust mein bisheriges Leben auf den Kopf stellen wird. Therapeutisch kam eins nach dem anderen: OPs, Chemotherapie und wieder OPs. Seelisch herrschte das reinste Chaos – das so oft verwendete Sprichwort: „Achterbahn der Gefühle“ durchlebte ich in einem ständigen Auf und Ab. Zwischen Todesangst und Familienglück mit kleinen Kindern,zwischen Zukunftsangst und dem Feiern von Kindergeburtstagsfesten, zwischen Schwangerschaft der Freundin und Planung der eigenen Beerdigung. Auf der einen Seite verwundete, sensible Patientin, aber auch starke Mutter kleiner Kinder und Ehefrau für einen Mann und Vater, der es im ganzen Trubel bis heute schafft für uns der Fels in der Brandung zu sein. Dank der vielen helfenden Hände wurde die schwere Zeit von Diagnose – Therapie - Regeneration und Restart des Lebens machbar und lebbar. Apropos Restart des Lebens: Die wesentlichste Veränderung in meinem Leben und Denken, welche diese 15 Monate hervorgerufen hat: Das Leben kann so schnell vorbei sein – ärger dich nicht über Unnötiges und mach für dich und deine Lieben das Beste draus.
Autorin ist der Redaktion bekannt

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Wenn Großeltern Ihren Kindern und Enkelkindern hinterher ziehen.

Wir würden es wieder so entscheiden:vor  acht Jahren sind wir von Rottenburg - meiner Heimatstadt - nach Bühl bei Baden-Baden gezogen, um in der Nähe von zwei Söhnen mit ihren Familien zu sein. Es gab verschiedene Motivationen. Über viele Jahre sind wir oft  nach Berlin gefahren, um die dort lebenden Eltern meiner Frau in ihren letzten, zum Teil auch schweren Jahren zu begleiten. Es waren weite Wege und manchmal waren wir auch sehr unter Strom, wie es dort mit der Pflegekraft, die im Haus wohnte, geht und wie sich so manche Probleme lösen lassen. Es war also auch eine Entscheidung vom Ende her gedacht: Auch wir sind eines Tages auf die Solidarität unserer Kinder angewiesen. Da zwei unserer vier Kinder beruflich bedingt zufällig ganz nahe beieinander wohnen, fiel die Entscheidung dann für diesen Standort Bühl/Baden. Nicht nur wegen der wunderschönen Landschaft an den Schwarzwaldhängen und paradiesischen Obstgärten,sondern weil beide Söhne signalisiert haben, dass sie es gut fänden, wenn wir in ihre Nähe ziehen würden. Einer der Söhne sagte mir in der Entscheidungsphase  bei einem Sonntagsspaziergang bei einem Besuch dort: Hier werde ich dich später im Rollstuhl spazieren fahren… 
Es geht aber auch um gegenseitige Solidarität. Jetzt können wir, weil wir noch „gut drauf sind“, –vieles mit den Enkelkindern gemeinsam unternehmen. Mit dem zwölfjährigen Enkel fahre ich regelmäßig Fahrrad mit interessanten, oft sehr tiefgründigen Gesprächen – er will den Amazonas retten. Der 13-jährigen Enkeltochter geht es um Gott und die Welt beim Fahrradfahren mit oft überraschenden Gedanken und  gegenseitigen Rückfragen. Mit dem Vierjährigen habe ich heute wieder in ihrem kleinen Garten Fußball gespielt. Wir sind bereits ein gutes Team, er entwickelt sich als Torwart schon erstaunlich gut. Über Jahrhunderte war es nichts Besonderes, dass Großeltern, Eltern und Enkelkinder nahe beieinander wohnen, oft im selben Haus. Dies haben wir bewusst nicht angestrebt, weil Nähe und Distanz einzuhalten ein wichtiges Kriterium dafür ist, dass es gelingt. Wir werden als Großeltern nicht verplant, noch erwarten wir, dass sie regelmäßig an unserer Wohnung läuten. Es ist eher spontan, fröhlich und kommunikativ. Manchmal auch eine große Freude für mich als Großvater, wenn ich den Vierjährigen endlich mal wieder in der Kita abholen konnte, wir als erstes ein Eis essen, dann in der Kirche eine Kerze für Mama und Papa und die armen Kinder auf der Welt anzünden und hinterher noch auf den Spielplatz gehen. Zeitlich geht das für mich leicht, weil ich immer noch viel Zeit  in meinem Arbeitszimmer verbringe und ganz froh bin, wenn ich zwischendurch vom Schreibtisch weg komme. Empfehlenswert ist dieser Schritt nur, wenn die jungen Eltern und die Enkelkinder dies auch wirklich wollen. Wenn diese das Gefühl hätten, jetzt kommen die Großeltern und wir wollen diese Nähe eigentlich gar nicht, dann sollte man es besser lassen.
Psychisch ist es wichtig, zu prüfen: Was gewinnen wir, durch diesen Umzug. Immerhin lassen wir unsere vertraute Umgebung zurück – Freunde, Haus,Garten… Aber diese Intensivierung der Kommunikation mit unseren Kindern und Enkelkindern und die große Freude, die in den letzten Jahren durch diese Nähe entstanden ist, hat kein Heimweh oder die Idee wieder zurückzugehen aufkommen lassen. Allerdings haben wir unseren Freundeskreis in Rottenburg und Tübingen dadurch ja auch nicht verloren. Durch Besuche hin und her ist er in manchem sogar noch intensiver geworden. Die Entscheidung für unseren heutigen Wohnort Büh/Baden hängt auch damit zusammen, dass diese beiden Söhne von ihrer Gesamtsituierung am ehesten in der Lage sind, für uns später „Engel am Wege“ zu sein, wenn sich unser Leben neigt und die Alterungsprozesse sich wie auch immer auswirken und auch zur Belastung werden können. Wir gehen nicht davon aus, dass sie uns pflegen, aber es gibt die Zusage, dass sie in der Nähe solidarisch sind. Einen generellen Rat gibt es in dieser Sache nicht. Man sollte intensiv in sich hineinhören, mit den Kindern offen die gegenseitigen Erwartungen und Motivationen klären. So können Enttäuschungen und Fehlentscheidungen vermieden werden. Erfreulich ist, dass von den sechs Enkelkindern eindeutig die Reaktion kam: es war richtig gut, „dass ihr zu uns gezogen seid.“
Prof. Albert Biesinger

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Gespräche auf den letzten Wegstrecke

„Das ist die wichtigste Frage, die mir seit langem jemand gestellt hat. Ich hätte sie mir selber viel eher stellen sollen“, antwortete mir die Patientin. Ich hatte sie gefragt: „Was hilft Ihnen innerlich, diese schwere Krankheit anzunehmen?“ Und war überrascht über diese tiefe Antwort. Sie war der Anfang einer intensiven Begleitung. 

Meine Begegnungen mit schwerkranken Menschen auf der Palliativstation lassen mich selber immer wieder fragen: „Was trägt mich in der Tiefe, gerade wenn es schwer ist und wenn es einmal ganz eng werden sollte? Auf welche Weise kann ich die Anbindung an eine göttliche Kraft und Liebe immer wieder spüren?“ Die emotionale, aber auch spirituelle Ebene des Lebens kommt erstaunlich oft – in unterschiedlicher Weise – bei Patienten zur Sprache. Sie erzählen zunächst Vieles aus ihrem Leben: Schönes, aber auch sehr Schweres. So als ob sie es noch einmal bewusst in ihre Hände nehmen und verstehen wollen, um es loslassen zu können. Es wird deutlich: Wir Menschen wollen wertschätzend wahrgenommen werden von Anderen in unserer Besonderheit und unserem Wesen. Und dabei kommen die Patienten oft in spürbaren tiefen Kontakt mit sich selber. Das kann sehr beglückend und verbindend sein trotz ihrer schweren Erkrankung, auch im Kontakt mit ihren Angehörigen. Viele Patienten beschäftigen sich am Ende des Lebens in irgendeiner Weise mit der Frage: „Was bleibt, wenn so Vieles jetzt wegbricht?“ Sie meldet sich z.B. als Sehnsucht nach endgültiger
Geborgenheit, als Frage nach dem Sinn und nach Schuld, auch als Anklage gegen Gott oder als besondere Glaubenserfahrung. Dann sind Menschen wichtig, die mit ihren Möglichkeiten einfühlsam darauf eingehen. Nachfragen. Gelten lassen. Nähe anbieten. Sich trauen, von diesem religiösen Bereich und ihrem eigenen Bezug dazu unaufdringlich zu sprechen. In passender Weise Zuspruch geben.

Ich erlebe es oft, dass im persönlichen Gespräch der Übergang von alltäglichen Erlebnissen und Krankheitserleben zu Glaubensthemen fließend sein kann. Bei kirchlich geprägten Menschen bringen vertraute biblische Formulierungen oft etwas ganz Tröstliches, das tief in ihnen liegt, zum Schwingen, so dass sie Angst abgeben und sich geborgen fühlen können trotz aller Not. Besonders spürbar und verbindend in einem persönlichen Gebet. Nicht selten lehnen Patienten kirchliche Institutionen ab, sind jedoch offen für eine Spiritualität, die andere Bilder und Worte benutzt. Ich erinnere mich an eine Patientin mit einem lebendigen kritischen Geist: „Ich bin katholisch, habe aber keinen Glaubensbezug. Dennoch bete ich Stoßgebete: Herr, hilf!“ Sie ist sehr berührt und weint.

Auf meine Nachfrage antwortet sie: „Ich glaube an etwas Größeres,das ich aber nicht so in Worte fassen kann.“ Ich frage sie: „Haben Sie dafür ein Bild, das Ihnen etwas bedeutet? Zum Beispiel einen Ort, der tiefen Frieden ausstrahlt. Oder eine große Hand, in die Sie sich bergen können?“ Die Patientin strahlt: „Ja, meine Freundin sagt: Stell dir eine heilende göttliche Lichtkugel vor. Dazu gehörst du. Dort kannst du hineingehen. Warum?, habe ich meine Freundin gefragt. Weil du eine ganz Besondere bist.“ 

Diese Wertschätzung berührt die Patientin sehr. Ich schenke ihr zum Abschied die Karte „Weg ins Licht“ von einem Tübinger Künstler: „Sie könnten sich vorstellen, vielleicht verbunden mit dem Ein- und Ausatmen, diese angedeuteten Stufen ins Licht hineinzugehen.“ „Ja, das fühlt sich sehr friedlich an“, ist ihre Antwort. „Dieses Bild nehme ich mit in den Schlaf.“ Ich achte darauf: Welche Formulierungen benutzen die Patienten? Welche könnten im Gespräch eine Brücke zueinander sein und vielleicht zu Gott? Was steht hinter den unterschiedlichen Formulierungen: die leise Hoffnung oder das Vertrauen auf die göttliche bergende Gegenwart als Grund und Ziel unseres Lebens?

Die zu Beginn erwähnte Patientin (mit der wichtigsten Frage) war aus der Kirche ausgetreten und wollte jetzt am Ende ihres Lebens ganz bewusst ihre Seele nähren, wie sie sagte. Einen Raum betreten, der – so vertraue ich – immer da ist, tief in uns als Grund unserer Seele, oft aber vergraben und dann wenig erfahrbar. Unzerstörbare Gott-Verbundenheit. Als diese Patientin vollkommen gelähmt war, wünschte sie sich ein ihr aus Studentenzeiten bekanntes Taizé-Lied: „Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke, mein Licht. Christus, meine Zuversicht, auf dich vertrau ich und fürcht mich nicht.“ Immer und immer wieder sollte ich es für sie singen wie ein meditatives Gebet. Das war ihre spürbare Brücke zu Gott. Elisabeth Schlunk

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