(K)ein Edelstein

Ein zwiespältiger Blick auf das Magnificat des Lukasevangeliums

Kennen Sie das? Im Urlaub liegt plötzlich ein besonders schöner Stein auf dem Weg oder am Strand, glitzert, hat eine besondere Form oder eine Linienzeichnung wie gemalt. Moment der Inbrunst: So geht mir das Herz auf, wenn ich das Magnificat höre, bete oder singe, angesichts dieser Vision einer Welt, in der statt Politikerschelte der Jubel erschallt, weil endlich, endlich einer die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellt. Moment mal – der Stein ist auf der Rückseite rau und dreckig: Bejuble ich etwa eine Welt, in der ich – gut verdienende Akademikerin mit vollem Kühl- und Kleiderschrank –weggeschickt werde? Ich bin, weiß Gott, nicht hungrig. Auch ohne Führungsposition kann ich beruflich wie gesellschaftlich doch mitgestalten und meine Meinung einbringen. Zu den „Niedrigen“ kann ich mich also auch nicht rechnen. Und selbst bei der „Hochmut“ würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Den Ausweg des Evangelisten Matthäus, der in den Seligpreisungen den Hunger und die Erniedrigung auf die geistige Ebene abstrahiert, kann ich mir ehrlichen Gewissens nicht zu eigen machen. Ist es nicht absurd, dass ich eine Welt besinge, in der Menschen wie ich zutiefst in Frage gestellt sind?

Ich reibe den Stein sauber. Er ist schön. Bei allem Erschrecken: Die Idee überzeugt. Es ist eine
befreiende Vorstellung, dass wir Menschen im Kleinen und im Globalen so zusammenleben, dass jeder „‘s Leben hat“, wie wir im Schwäbischen so schön sagen (leider meist negativ gewendet: „der hot’s Leaba net, so wia’s bei dem daheim zugeht“). Mein Herz, meine Sehnsucht kann dem nicht widerstehen. Und es ist ja Realität. Arbeitgeber schaffen ein wertschätzendes Betriebsklima. Menschen setzen sich für den Zusammenhalt der Gesellschaft ein. Nationen wie aktuell Äthiopien und Eritrea söhnen sich wider Erwarten aus. Da wird die Welt rund und schön.
Mangels persönlicher Armut greife ich zur Strategie, schon vor der Eroberung das Programm des kommenden Herrschers auf die Fahnen zu schreiben, das Maria wie ein Herold verkündet. Ich übe seine Sprache, indem ich persönlich und mit meiner Kirche für Gerechtigkeit eintrete, für Menschen ohne Lobby die Stimme erhebe, mich für Frieden und Menschlichkeit einsetze. Ich eigne mir die Haltung an, dass jeder Mensch ein Mensch Gottes ist, voller Würde und Ansehens wert. Ich singe das Magnificat mit Inbrunst – als überzeugendes Manifest. Ich ergreife Partei.

Kurz vor dem Nachhausekommen nehme ich den mittlerweile in die Jackentasche gewanderten Kiesel wieder in die Hand. Entscheidungsmoment. Ist er es wert, mitgenommen und aufbewahrt zu werden? Es ist ja doch bloß ein normaler Stein. Zeitpunkt der Ernüchterung: Klopft man
die schönen Worte auf ihren Wahrheitsgehalt ab, ist es wie bei einem Stein, den man aus dem Wasser geholt hat und dessen Schönheit beim Trocknen vor unseren Augen verdunstet. Waren die jubelnden Hoffnungen der schwangeren, geisterfüllten Maria mehr als fromme Wünsche? Spätestens die Zeile „er nimmt sich seines Knechtes Israel an“ bleibt mir im Halse stecken. Gerade in Israel, im Land der Verheißung, vermisst man doch seit Jahrhunderten den Herrscher, der die Gewalttäter vertreibt und den friedliebenden Menschen aller Nation zu ihrem Recht verhilft. Der trockene Kiesel ist stumpf. Aber ich weiß, dass er, ins Wasser getaucht, leuchtet. Behalten, wegwerfen? „... zu oft hast Du daran geglaubt, wenn einer Dir sagte, dass die Ohnmacht der vielen unter der Macht der wenigen nicht zu beenden ist ... Und wenn einer sagte, er träume davon, dass die Dinge sich ändern, dann träumtest auch Du ...“, schreibt Giannina Wedde1, „Du bist gerufen an die Ränder der Dämme, die brechen wollen, zu den Strömen der Sehnsucht nach einer wirtlichen Welt ...“

Der Kiesel liegt in meiner Hand. Ich nehme ihn mit. Als Erinnerung: Magnificat. „Groß sein lässt meine Seele den Herrn“2, weil ich glaube, weil mir die Sehnsucht ins Herz gepflanzt ist und weil ich immer wieder erfahre, dass die Welt gut sein kann. Und ich heiße Gott groß sein, weil ich IHN/SIE herausfordern will, mahnen will: Du hast der Welt ein Programm gegeben, dann musst du uns doch Kraft, Kreativität und Klugheit geben, damit wir dein Programm umsetzen! Du kannst doch deine Welt nicht vor die Hunde gehen lassen! Gott soll nicht vergessen. Ich soll nicht vergessen. Magnificat anima mea dominum!

Pastoralreferentin Cäcilia Branz, Stuttgart

1Gianinna Wedde, In deiner Weite lass mich Atem holen, Münsterschwarzach 2018.
2 Übertragung des Magnificat von Martin Schraufstetter.

 

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Die Mächtigen sürzt er vom Thron und erhöht die Niedrigen

50 Jahre Befreiungstheologie

Vor 50 Jahren (im Herbst 1968) fand im kolumbianischen Medellin eine Vollversammlung der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz statt, die einen Meilenstein in der Kirchengeschichte dieses Subkontinents darstellen sollte. Wie überall in der katholischen Weltkirche sollte das in den Texten des 2. Vatikanischen Konzils neu formulierte Selbstverständnis der Kirche auch in Lateinamerika umgesetzt werden. Das Konzil hatte allen, aber vor allem den Kirchenleitungen, ins Herz geschrieben, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Die Situation in Lateinamerika war in den 60er Jahren geprägt von einer himmelschreienden Ungerechtigkeit, die in vielen Ländern durch brutale Militärdiktaturen gestützt wurde. Dennoch wurde lange Zeit in kirchlichen Dokumenten von Armut als einer Folge von Unterentwicklung gesprochen. In Medellin wurde diese Sicht abgelöst von der Erkenntnis, dass Armut und Wohlstand zwei Seiten einer Medaille darstellten. Sowohl was die Situation in einzelnen Ländern betraf, als auch im Blick auf die internationalen Zusammenhänge machten sich die Bischöfe den Begriff von der strukturellen Sünde zu eigen.
Daraus ergaben sich neue Perspektiven auch auf andere Glaubensinhalte. Erlösung ist nicht nur dem einzelnen Menschen zugesagt, sondern Befreiung von der Sünde bedeutet auch, die Strukturen zu ändern, die Menschen ihrer Würde berauben.

Bereits vor der Konferenz in Medellin hatten Theologen, wie der Peruaner Gustavo Gutiérrez, erste theologische Reflexionen formuliert. Bestätigt durch die Aussagen der Bischöfe entfaltete sich in den Folgejahren unter der Bezeichnung „Theologie der Befreiung“ eine breite theologische Tradition, die auch in Asien und Afrika ihre spezifische Ausformung erfuhr.
In Texten wie dem Magnifikat (Lk 1,46-55) artikulierte sich aus Sicht der Befreiungstheologie die vorrangige Option für die Armen, die sich vom Exodus aus der ägyptischen Sklaverei bis zur Auferstehung Jesu als roter Faden durch die biblische Tradition zieht. So formulieren die Bischöfe zehn Jahre nach Medellin auf ihrer Konferenz in Puebla: „In ihm (dem Magnifikat, der Verf.) erreicht die Spiritualität der Amen Jahwes und der Prophetengeist des Alten Bundes seinen Höhepunkt. Das Magnifikat ist der Gesang, der das neue Evangelium Christi ankündigt ...“ (Nr. 297).

Immer wieder musste sich die Befreiungstheologie gegen den Vorwurf verwehren, sie ummantele lediglich marxistisches Gedankengut mit religiösen Begrifflichkeiten. Dagegen geht es um nichts anderes als die Antwort auf die Frage, wie man in einer von Ungerechtigkeit beherrschten Welt vom gütigen Gott sprechen soll. Mit seinem bekannt gewordenen Satz „Diese Wirtschaft tötet“ (Evangelii Gaudium 53) stellt sich Papst Franziskus in diese theologische Tradition.

Pastoralreferent Hermann Merkle  

 

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Lukas der Evangelist

Seit dem 1. Advent begleitet uns Lukas als Evangelist. Von allen vier Evangelisten ist er der Erzähler. Viele seiner Geschichten und die darin auftreten- den Personen sind uns vertraut: Der verlorene Sohn und der barmherzige Vater, Maria und Marta, der barmherzige Samariter, der Zöllner Zachäus, der auf den Baum klettert, um Jesus zu sehen, das Beispiel vom reichen Mann und von Lazarus, die Emmausgeschichte – und vor allem die Weihnachtsgeschichte, die wir jedes Jahr in der Christmette hören und die das Krippenspiel uns lebendig vor Augen führt.

„Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr“ (Lk 2,11). Das ist der zentrale Satz des Weihnachtsevangeliums. Was die Worte aber bedeuten und wie sie zu verstehen sind, das erzählt Lukas uns in seinem Evangelium. Dabei lohnt es sich immer, genau hinzuschauen, wie er sich von seinen Kollegen unterscheidet. Seinen Vorlagen (das ist Markus und eine weitere Textquelle, die er mit Matthäus zusammen teilt) hat er durch gezielte Überarbeitung und eine eigene Wortwahl seine spezifische Aussage gegeben. Am Beispiel der Taufe Jesu möchte ich das veranschaulichen: Hier betont Lukas, dass Jesus die Stimme des Vaters hört, während er betet: „Du bist mein geliebter Sohn“ (Lk 3,22). Jesus zeichnet ein inniges Vertrauen zu seinem Vater aus. Daraus lebt er und daraus schöpft er Kraft und Mut, auf die Menschen zuzugehen und seiner Botschaft bis zum Kreuz hin treu zu bleiben. In den Begegnungen mit Jesus erleben die Menschen Versöhnung und Heilung. Da erleben die Menschen den Retter, den Messias und den Herrn. Davon erzählt uns Lukas.

Im Lukasevangelium begegnen uns immer wieder betende Menschen: Maria, die Mutter Jesu, betet bei der Begegnung mit ihrer Base Elisabeth: „Meine Seele preist die Größe des Herrn ...“ (Lk 1,46- 55). Zacharias freut sich nach der Geburt seines Sohnes, Johannes des Täufers: „Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels ...“ (Lk 1,68-79). Und der alte Simeon ist überglücklich, als er den kleinen Jesus im Tempel sieht, und jubelt: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden ...“ (Lk 2,29-32). Diese Gebete, die Psalmen so ähnlich sind, gingen auch in unseren Gebetsschatz ein: Das Gebet des Zacharias beten wir beim Morgengebet (Laudes), das der Maria beim Abendgebet (Vesper) und das des Simeon schließlich beim Nachtgebet (Komplet).
„Herr, lehre uns beten“ (Lk 11,1) – das ist für mich der innige Wunsch der Jüngerinnen und Jünger Jesu, aus demselben Vertrauen heraus zu leben, wie es Jesus tut. Und es folgt das Gebet, das wir von klein auf kennen: Vater unser im Himmel ... (allerdings hier in etwas anderen Worten). Damit tritt das Evangelium in unser eigenes Leben ein. Die Erzählungen des Lukas setzen sich fort in unseren eigenen Erfahrungen. Wo habe ich mich vom Vertrauen auf den Vater hin geborgen und getragen erlebt? In welchen Situationen hat mir das Trost und Halt gegeben? Wo schenkt mir mein Glaube Freude? Und so können wir selbst zu Erzählerinnen und Erzählern werden, die von Jesus als dem Retter, Messias und Herrn in unserem eigenen Leben erzählen. Das Evangelium will fortgeschrieben und weitererzählt werden.
Das hat auch Lukas gemacht: Dem Schreiber des Evangeliums wird auch die Apostelgeschichte
zugeschrieben. Mit dem Karfreitag bricht die Geschichte eben nicht ab. Sondern mit dem, was die Jüngerinnen und Jünger Jesu an Ostern erlebt haben, geht die Geschichte erst recht weiter! „Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“ (Lk 24,32). Das haben die beiden Jünger am Ostertag auf ihrem Weg nach Emmaus erlebt. Es ist ein brennendes Herz aus Leidenschaft und Freude, das die beiden nach Jerusalem zurückkehren und erzählen lässt. Ein brennendes Herz ist es (kein ausgebranntes), das die junge Kirche vorangetrieben hat, von Jesus zu erzählen. Davon berichtet die Apostelgeschichte.

„Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten“ (Apg 2,42). Für mich persönlich ist das ein zentraler Satz. Hier wird greifbar, wie Lukas sich „Kirche“ vorstellt: Verwurzelt sein in der Heiligen Schrift, in einer tragfähigen und lebendigen Gemeinde, im Gottesdienst und im Gebet. Das leben wir als Katholische Kirche in Tübingen und damit sind wir dem Lukas nahe und schreiben seine Erzählungen mit unseren Glaubensgeschichten weiter! Verlieren wir nie den Zauber des brennenden Herzens!

Pfarrer Dominik Weiß