Eigentlich ist sie immer da…

So war der Beitrag über das Leben und Wirken von Schwester Carlagnese Nanino in den Tübinger Blättern von 2019 überschrieben. Nun ist Schwester Carlagnese nicht mehr da. Am 12. März ist sie im Alter von 89 Jahren im Kreis ihrer Mitschwestern verstorben – unter dem Dach ihres Carlo, dem Kinderhaus Carlo Steeb, das ihr über 65 Jahre Heimat war. So hat sie nun ihre Heimat bei Gott gefunden. Für viele Menschen und  Familien war sie in diesen Jahren Weggefährtin, Fürsprecherin und geistliche Begleitung. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes Gott und die Welt im Gebet begleitet und dabei dennoch die einzelne Person nie aus dem Blick verloren, bis zuletzt und unvergesslich. Danke Carla! Ruhe in Frieden.

Stefan Müller-Guggemos

Requiem und Beerdigung

Sr. Carlagnese wurde am Donnerstag den 17. März auf dem Bergfriedhof in Tübingen beerdigt. Davor fand in St. Michael ein Requiem statt.

Sr. Carlagnese

Sie ist 1932 in Ettlingen geboren, leitet als Oberin die Gemeinschaft der Carlo-Steeb-Schwestern in Tübingen und ist Ehrenbürgerin der Stadt. Die Sozialpädagogin ist eine Pionierin des Kinderhauskonzepts mit altersgemischten Gruppen und flexiblen Öffnungszeiten, das sie in dem 1954 von ihrem Orden gegründeten Kindergarten entwickelt und umgesetzt hat.

Im HeiligsBlättle Nummer 3 aus dem Jahr 2017 war folgender Beitrag abgedruckt.
Als Erinnerung an Sr. Carlagnese stellen wir ihn hier nochmals auf die Internetseite.


Warum die Carlo-Steeb-Schwestern ein ganzes Jahr lang für Kommunionkinder beten, wie sie Stundengebet und persönliche Anliegen, Tischgebete und Aktualität miteinander verbinden, wie sie ihren Zorn auch im Gebet rauslassen und warum Beten zu Gott Versöhnung mit den Mitmenschen braucht. Über all das und noch mehr haben Oberin Carlagnese (C) und Schwester Davidica (D) gegenüber dem HeiligsBlättle bereitwillig Auskunft gegeben. Und sicher wurde beim Sprechen über das Beten selten so viel und herzlich gelacht wie in diesem Interview. Die Fragen stellten Barbara Wiedemann und Ludwig-Michael Cremer.

Jedes Jahr, sobald die neuen Kommunionkinder in St. Michael feststehen, lassen Sie sich immer die Liste mit den Namen geben. Warum?
C: Weil wir für das Kind und die Familie beten.

Wissen die das?
C: Ja. Jedes Kind bekommt ein Kärtchen mit einem Gebetsversprechen. Das soll es auch den Eltern zeigen.

Beten als Geschenk?
C: Ja, das mach ich grundsätzlich. Segen und Gebet: Das sind unsere Geschenke. Und die Leut’ nehmen das an.
D: Die Kommunionliste habe in meinem Gebetbuch drin, so sind sie immer präsent. Das ist nicht nur so dahingesagt, sondern wird wirklich gehalten.

Beten Sie auch für andere?
C (nickt heftig): Wir beten morgens die Laudes, dann die Mittagshore, die Vesper, die Komplet, und während der Fürbitten machen wir immer eine Pause und dann können wir dort alle Menschen einfügen, die wir wollen. Wenn es mal ein Versprechen gibt, an das man nicht mehr denkt, dann sage ich immer zum Herrgott: Du weißt es. Ich bet für die, die Du auch kennst. Du weißt es, wem ich’s versprochen hab.

Sie haben gerade das Stundengebet angesprochen, das Sie als Schwestern gemeinsam beten …
C: Die Stundengebete beten wir regelmäßig zusammen. Das ist, was die Gemeinschaft zusammenhält. Und es verbindet uns mit der Kirche. Ich finde es ganz wichtig, dass wir Verbundenheit spüren mit der Weltkirche.

Wie läuft ein Stundengebet ab?
D: Zuerst ein Hymnus, dann die Psalmen und eine Kurzlesung aus der Bibel, das Fürbittgebet und das Vaterunser am Schluss. Außerdem morgens noch das Benedictus und abends das Magnificat.

Sie beten also den ganzen Tag über. Wann geht es los?
C: Wir sind ein bisschen älter geworden, jetzt beten wir um sieben Uhr die Laudes und anschließend gibt es eine Meditation. Die Mittagshore machen wir so um zwölf, die Vesper um sechs/halb sieben, je nachdem, ob Abendmesse ist, und die Komplet als letztes.

Und neben dem Stundengebet, das Sie in der Kapelle hier im Haus beten, besuchen Sie täglich eine Messe?
C: An den Wochentagen haben wir morgens zweimal Messe in der Kapelle bei uns und zweimal in St. Michael. Zweimal gehen wir nach St. Johannes. Wir sind also unterwegs für den Herrgott. Die Eucharistie ist für uns der Höhepunkt des Tages. Was tun wir denn, wenn wir Eucharistie feiern? Also, ich denke: Wir sind verliebt in Jesus und wir gehören zu Jesus, diese Verbundenheit ist durch die Eucharistie da: Das ist „Beziehungpflege“ mit Christus, und das ist für uns ganz, ganz wichtig.
D: Das hast Du schön gesagt.
C (lacht): Er hat uns ja gewollt, ich hab ihn nicht gewollt. Ich hätt‘s nicht gemacht. Jetzt muss er mich auch nehmen. Bezirpt hat er mich! Das kennen Sie selber, wenn man ganz jung ist, ja, und wenn man sich da verliebt, was man da macht. Das war einfach eine Anziehung, ja, ich konnte nicht anders, ich musste.

Sie haben einmal erzählt, daß es Psalmen gibt, die Sie ungern beten.
C: Ja, es gibt Psalmen, die mir nichts sagen. Rache-psalmen, so verzweifelte, über Tod und Elend und so weiter, diese Psalmen, die liegen mir nicht.

Was macht das mit Ihnen, wenn Sie die beten müssen, weils vorgeschrieben ist?
C: Ach mein Gott! Die lasse ich dann halt an mir herunterlaufen, die betreffen mich nicht.

Und die Psalmen, die Sie besonders gern mögen?
C: Die bete ich dann auch untertags immer wieder, Verse daraus. Immer wenn ich gedanklich frei bin, am Aufzug warte, an der Haltestelle, wenn ich laufe und so weiter. Überall. Die Zeiten, die ich innerlich frei habe, sind für Ihn, das kommt dann ganz spontan. Ich lebe einfach mit Ihm.

Und dann kommen auch spontan Psalmverse?
C: Ja, ja, zehnmal, zwanzigmal die gleichen. Ich lebe diese Beziehung mit Christus, das ist einfach so, und das kommt durch die Psalmen dann auch zur Sprache. Die tragen mich …

Gibts oder gab es auch Zeiten, in denen Sie nicht beten konnten?
C: Beten ist für mich ganz wichtig verbunden mit Versöhnung. Wenn ich mit jemand was habe, Streit habe, oder was nicht passend ist, kann ich nicht beten. Dann muß ich das zuerst in Ordnung bringen. Ich kann nicht Gott loben und einen Ärger haben mit jemand, es geht nicht.

Wenn Sie sich mal vorstellen, jemand käme zu Ihnen und würde sagen: „Ich habe schon ganz lange nicht gebetet, und ich würde es aber gerne noch mal probieren.“ Was würden Sie so jemandem empfehlen? 
C: Ich würde zuerst einmal von mir erzählen, wie ich das mache. Ich kann nur meine eigene Erfahrung sagen, und dann kann ich das anbieten und sagen, ob er damit was machen kann. Ich würde nie einen Vorschlag machen oder einen Rat geben, das mach ich grundsätzlich nicht. Ich kann es anbieten – so wie ich’s mach. Ratschläge geben – mach ich grundsätzlich nicht. Ich möchte auch keine haben.

Haben Sie ein Lieblingsgebet, und verraten Sie es uns?
C: (lacht): Psalmen wie „Gott, Du mein Gott, ich suche Dich“, „Selig, die bei Dir wohnen, Herr“, und was ich ganz gern habe, den 139. Psalm, dieses ganzheitliche Bei-Gott-sein-Können, dass er überall mit mir geht. Den Miserere-Psalm, den hab ich auch sehr gerne. Besonders, wenn Dinge schief laufen, bete ich den. Und wenn’s Krach gibt und so weiter, dann singe ich das „Herr erbarme Dich“, dann vergeht mir alles. Das ist ein Reinigungsprozess, wenn man das von innen heraus betet. Einfach: „Herr erbarme Dich.“ Die andern können lachen, aber das ist mir egal, ich mach das dann trotzdem. 

Laut?
C: Ja, ich mach das. Wenn da Streit ist, dann sing ich das laut. Für mich ist ganz wichtig für’s Gebet, dass ich innerlich wohlwollend den Menschen gegenüber bin, dass nichts drin ist gegen einen Menschen, das geht nicht, so kann ich nicht beten, das wär dann ein Verrat am Gebet.

... und am Menschen?
C: Ja, natürlich. Ich kann manche Dinge nicht in Ordnung bringen, die gehn einfach nicht, wenn andre nicht mitmachen. Dann bet ich für diejenigen und versuche dann, für mich im Frieden zu sein. Aber diese Stimmigkeit zwischen außen und innen, die muss sein beim Gebet. Ich kann das nicht trennen, Gott und Mensch kann ich nicht trennen. Es geht nicht. Ohne Liebe, ohne Versöhnung kann ich nicht beten, oder ich kann beten, aber es bringt mir nichts. Es muss einfach dieser innere Frieden da sein – das ist ja die Versöhnung. Unser Leben ist doch Versöhnung. Ich muß laufend unsere Beziehung mit Gott klären und mit den anderen. Ich habe immer dieses Dreieck: Gott, die anderen und ich. Das muss stimmig sein.

Die einen sagen: Gebet ist Sprechen zu Gott. Die andern sagen: Gebet ist Hören auf Gott. Wie ist das bei Ihnen?
C: Es ist ein laufender Dialog. Wie ich mit Ihnen spreche, spreche ich mit Ihm auch. 

Er antwortet Ihnen also auch?
C: Ich spüre das dann schon. Ich spüre, ob Er mir antwortet oder nicht.
D: Ich muß noch was hinzufügen: Wir pflegen noch das Tischgebet …
C: … morgens, mittags, abends, vor dem Essen, nach dem Essen …
D: … und sie als Oberin hat immer die Aufgabe, das Tischgebet zu sprechen: Und was kommt da? Ganz spontan alles, was grad aktuell ist, sei es in der Welt oder sei es unter uns. Das kommt vor dem Tischgebet auf den Tisch, und dann „Danke, Herr“, „Gott segne“, oder was immer noch.
C: Für mich ist ganz wichtig die Stille vorm Gebet, die Sammlung. Wenn ich mit Ihnen jetzt spreche, dann bin ich ganz da. Und so ist es mit dem Herrgott genauso. Wenn ich mit Gott spreche, dann muß da Stille sein. Und wenn da eine noch irgendwo rumhantiert, wenn eine sagt: „Fang doch mal’s Beten an“: Dann sag ich, „ich warte“ und dann wart ich wieder länger.
D: Dass man sich vorher sammelt, gehört für mich auch dazu. Was ich bei Carlagnese bewundere, ist die
Spontaneität im Gebet. Das macht Beten auch schön.
C: Deshalb kann ich mit vorgefertigten Gebeten wenig anfangen. Wir haben es in der Liturgie. Aber außerdem alles nur persönlich. Wir haben die Freiheit. Das Brevier-Gebet ist Pflicht, die Eucharistie ist Pflicht. Da ist soviel liturgische Sprache mit drin – für mich genügt das. Alles übrige mache ich mit Ihm persönlich aus, was mir auf dem Herzen liegt. Und wenn ich verärgert bin und nicht kann, dann sag ich’s Ihm auch: Es tut mir leid, Du bist schuld … Ich sag’s Ihm schon! Wenn mal was nicht stimmt, dann mach ich’s stimmig, sprech mit Ihm zuerst einmal, versuch das hinzukriegen mit Ihm. Wenn’s nicht geht,
dann muss ich halt nochmal kommen… Ich brauche dieses lebendige Beten, ich kann das andere nicht. 

Und gibt es noch etwas, das Ihnen beim Beten wichtig ist?
C: Was mir noch wichtig ist, ist das Kreuz. Das Kreuz ist das, was mir grad in schwierigen Situationen hilft. Ich schaue das Kreuz an und baue dann eine Beziehung mit Ihm auf. Das tut mir gut – das mache ich fast jeden Tag.
D: Das letzte HeiligsBlättle hatte einen schönen Titel: „Kirche als Heimat“. Das kann man genauso vom Beten sagen. Beten ist Heimat. Von Martin Delbrügger hab ich unlängst ein Kalenderblatt abgezogen mit dem Spruch: „Feste sind Heimat in der Zeit.“ Da hab ich gedacht: Ja, stimmt. Wie beim Gebet. Das ist auch Heimat in der Zeit, Beziehung zu Gott, Geborgenheit, ja. Das ist so schön!

Nachträglich erreichte uns eine E-Mail von Schwester Carlagnese: „Etwas wäre zu ergänzen zu meinem Gebetsleben, es läuft nicht alles so glatt: Ich habe oft auch Zweifel und Unglauben, da kämpfe ich mit mir.“

Wir danken von Herzen für das offene und persönliche Gespräch!